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Erfolg rechtstaatlicher Vernunft

Das Ergebnis der Abstimmung über die Widerspruchslösung bei der Organspende ist ein Erfolg der rechtstaatlichen Einsicht, der weit über das Thema Organspende hinaus Bedeutung hat. Es war eine Entscheidung, die Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiheit aller Bürgerinnen und Bürger stärkt und Partei ergreift für Individualität und die Freiheit der Verantwortung des Einzelnen, über sein Schicksal und die Verantwortung für das Gemeinwesen selbst zu reflektieren und sie emanzipiert – das bedeutet frei von Fremdbestimmung – zu gestalten. Die Lösung appelliert an die Vernunft und Einsicht der Menschen, indem sie in bestimmten Abständen mit der Frage und Entscheidung konfrontiert werden, ob sie Organspender werden oder nicht. Dieses Verfahren ermöglicht es jedem Einzelnen, sich damit frei von Druck für oder gegen eine Organspende und für einen freiwilligen Beitrag zum Gemeinwesen zu entscheiden.

Damit folgte der Bundestag mehrheitlich einem Prinzip, dass auf Entscheidungsfreiheit setzt, statt die Menschen ab einem Mindestalter von 16 Jahren im Falle eines tödlichen Unfalls grundsätzlich zu einer Organbank zu machen. Sie macht es nun weiterhin möglich, dass es sich um eine wirkliche Spende handelt. Die jetzt beschlossene Gesetzeslage geht davon aus, dass der Mensch sich erst einmal selbst gehört – so hat es Annalena Baerbock zutreffend beschrieben – und nicht dem Staat, dem Gemeinwesen oder irgendeiner übergeordneten Moral. Das hat auch für andere Bereiche unseres Gemeinwesens ganz entscheidende Bedeutung. Denn die Rechtsordnung des Grundgesetzes, abgeleitet aus der Menschenwürde aus Artikel 1, stellt Würde und Selbstbestimmung des Einzelnen eben über die Bedürfnisse der Gesellschaft und des Staates. Eine “Spende” ist ein aktiver freiwilliger Beitrag und eine solch aktive Entscheidung muss sie bleiben.

Potenzielle Verlierer einer Widerspruchslösung

Eine Widerspruchslösung hätte natürlich auch erhebliche soziale Auswirkungen gehabt. Es geht nicht nur um das Menschenbild einer solchen Lösung. Wenn der Staat erst einmal davon ausgeht, dass die Organe Verstorbener quasi der Allgemeinheit gehören, wenn der Betroffene nicht zu Lebzeiten widersprochen hat, bedeutet das einen sozialen Dammbruch. Wer wird denn, muss doch gefragt werden, am ehesten widersprechen? Natürlich die Gebildeten, sozial Starken, die sich selbstbewußt zu artikulieren gelernt haben, die im Umgang mit dem Staat oder Behörden keine Berührungsängste haben. Genau diejenigen aber, die wenig gebildet, wenig erfahren im Umgang mit solchen Entscheidungen oder mit dem Staat sind, die vielleicht Hartz IV beziehen, sich eher zurückziehen oder denen Sprachbarrieren oder andere Hindernisse die Entscheidung erschweren, die nicht gewohnt sind oder gelernt haben, ethische Entscheidungen zu treffen, SIE wären die Verlierer dieser Lösung. Das aber kann nicht hingenommen werden und auch deshalb ist die getroffene Entscheidung die Richtige.

Wäre die Mehrheit des Bundestages der Spahn’schen Widerspruchslösung gefolgt, wäre dies auf eine Abwägung von Rechtsgütern hinausgelaufen, die nicht gegeneinander abzuwägen sind. Der Frage, wie hoch die verfassungsrechtliche Würde des Menschen anzusetzen ist, gegen die Frage, wie einem temporären medizinischen Mangel an transplantationsfähigen Organen sozial abgeholfen werden kann, ist nicht miteinander verhandelbar. Dies wäre ein historischer Bruch mit einem existenziellen Teil der Werteordnung des Grundgesetzes gewesen. Da kann auch die Argumentation mit den höheren Zahlen verfügbarer Organe für Transplantationen in anderen europäischen Ländern nicht überzeugen. Denn dort, wo die Widerspruchslösung gilt, handelt es sich eben nicht mehr um Organspenden, sondern eine Organentnahmepraxis, der der Einzelne ausnahmsweise widersprechen kann. Und damit würde eine Art Umkehr der Beweislast bei Entscheidungen in Gang gesetzt. In einer solchen individuellen Entscheidungssituation muss der Einzelne aktiv seinen Widerspruch gegen den Staat als Autorität formulieren – im nächsten Schritt möglicherweise auch noch begründen. Das aber hat mit Selbstbestimmung und Spendebereitschaft nichts mehr zu tun. Es kommt eher einem Vorrang von Anspruch des Staats und damit einer autoritären Lösung gleich.

In der konkreten Sache hätte eine solche Regelung gegenüber der jetzt getroffenen Lösung die Lage vielleicht noch verschlimmert: Nicht wenige Menschen in meiner sozialen Umgebung, die einen Organspendeausweis besitzen, hatten für diesen Fall angekündigt, ihn zurück zu geben. Die Befürworter der Widerspruchslösung ignorierten nämlich völlig, dass es für die in den letzten Jahren gerade in Deutschland zurückgegangene Bereitschaft zur Organspende sehr konkrete gute Gründe gibt. Nicht zuletzt die Skandale um illegalen Organhandel und die Manipulation von Organspendelisten bei “Eurotransplant” dürften für das deutlich gewachsene Mißtrauen und erhebliche Zweifel vieler Spender, ob ihre Organspende auch den richtigen zugute käme, viel entscheidender gewesen sein, als die oft mit unterschwelliger Moral geführten öffentlichen Pro-Spende-Kampagnen.

Und noch ein entscheidender Grund spricht gegen die “Widerspruchslösung” – handelt es sich doch bei ihr auch um eine Art von Umkehr der Begründungs- oder Beweislast zugunsten des Staates und gegen das Individuum, die wir aus vielen anderen Beispielen kennen. So etwa bei der Vorratsdatenspeicherung, die 82 Millionen Telekommunikationsteilnehmer zu Verdächtigen der Sicherheitsbehörden macht – weil angeblich ohne diese Speicherung einzelne Terroristen und Schwerverbrecher nicht zu fassen sind. Inzwischen werden von den “Sicherheitspolitikern” diejenigen, die diese Art Masseneinschränkung von Grundrechten ablehnen und sie verhindern wollen, unter öffentlichen und sozialen Rechtfertigungsdruck gesetzt.

Verwandtschaft im autoritären Denken

Auch die Unschuldsvermutung ist ein wichtiger rechtsstaatlicher Verfassungsgrundsatz, der auf dem gleichen Menschenbild unserer freiheitlichen Gesellschaft beruht. Trotzdem wird in immer mehr Rechtsbereichen heute aus Opportunitätsgründen die “Beweislastumkehr” durchgeführt oder angestrebt. Auch hier findet – wenn auch nicht in einer solch existenziellen Frage, wie bei der Organspende – immer stärker statt der Verteidigung der Freiheitsrechte des Individuums eine reine Interessenabwägung statt, die die Freiheitsrechte dem abstrakten Strafverfolgungsinteresse unterzuordnen trachtet. Im Bereich der Videoüberwachung öffentlicher Räume ist es schon fast so weit: Das Bundesverfassungsgericht erklärte noch im Volkszählungsurteil 1983:  …”eine Gesellschaft mit dem Grundgesetz für unvereinbar, in der Bürger befürchten müssten, jederzeit in der Öffentlichkeit identifiziert und erkannt und zu werden”…, weil zu befürchten sei, dass letztlich demokratischen Entscheidungen durch Überwachung beeinflusst würden. Heute werden Bürgerrechtler inzwischen einem öffentlichen Begründungsdruck durch Politik und “Sicherheits”-Behörden unterworfen, wenn sie sich einer flächendeckenden Videoüberwachung mit biometrischer Gesichtserkennung entgegenstellen.

Die vom Bundestag mehrheitlich beschlossene Lösung ist nicht nur deshalb überzeugend. Sie hat wahrscheinlich nicht nur durch die öffentliche Diskussion das Problem viel stärker positiv ins Bewußtsein einer großen Zahl von Bürgerinnen und Bürgern gerückt, als es die eher staatsgläubige Widerspruchslösung je geschafft hätte. Sie hat auch das Vertrauen in die Politik und in die Notwendigkeit der Organspende ein gutes Stück wieder hergestellt und damit eine Menge erreicht. Sie hat ganz praktisch Menschen davon abgehalten, ihren Organspendeausweis zurück zu geben und sie hat mich überzeugt, nun Organspender zu werden. Und ich glaube, ich werde da nicht allein bleiben. Die Befürworter der Widerspruchslösung haben etwas ganz Entscheidendes nicht verstanden: Nicht die Umkehr der Beweislast und damit eine autoritäre, den Willen vieler Betroffener einfach übergehende Lösung bringt mehr Bereitschaft, Organe zu spenden, sondern Aufklärung und Einsicht, Problembewusstsein und freiwillige Hilfsbereitschaft können nachhaltig viel mehr erreichen.

Der klassische Konflikt im Hintergrund lautet: Führen mehr Emanzipation und Selbstbestimmung oder mehr autoritäre Haltung des Staates zum gewünschten Ergebnis? Wir alle können uns jetzt entscheiden.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net

2 Kommentare

  1. Heiner Jüttner

    Da drängt es sich auf, einmal § 323c des Strafgesetzbuchs zu lesen: „Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.“

    Offenbar geht es doch, jemanden ohne dessen vorherige Zustimmung zur Hilfe für den Mitmenschen zu verpflichten, sogar unter Androhung einer Strafe. Danach hätten sich diejenigen Abgeordneten richten sollen, die die Widerspruchslösung abgelehnt haben.

    In meinem Organspendeausweis steht übrigens schon seit Jahrzehnten, dass meine Organe nur jemandem verpflanzt werden dürfen, der selbst Organspender ist.

  2. Roland Appel

    Lieber Heiner, ein gutes Beispiel, dass selbst das Strafrecht – im Falle der unterlassenen Hilfeleistung – als Mittel, wünschbares Verhalten herbeizuführen, untauglich ist und leerläuft, wenn die Einsicht oder die humanitäre Erziehung fehlen. Siehe die aktuelle Praxis der Gaffer, Handyfilmer und Helferbehinderer auf unseren Straßen und in der Öffentlichkeit nach oder bei Unfällen.
    Ich halte den Vergleich für nicht zulässig, wegen einer kleinen entscheidende Formulierung:
    …und ihm den Umständen nach zuzumuten ist…
    LG Roland

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