Fast komplettes Herunterfahren und Neustart – dieser Grossversuch beginnt derzeit in Gesellschaft und Ökonomie. Bereits jetzt ist in den deutschen Medien sichtbar, dass der Rest der Welt immer unsichtbarer wird. Es geht nur noch um “uns”- Viele meinen und hoffen, dass jetzt lange beschworene Solidarität der Menschen untereinander nicht nur mannigfach praktiziert wird, sondern auch in der öffentlichen Betrachtung den ihr zustehenden Rang bekommt. Doch insbesondere was Letzteres betrifft, rate ich zu grosser Vorsicht.
Es ist, auch wenn es einige nerven mag, wieder der Blick auf das Fußballbusiness. Die selbst in dieses Business verstrickten Medien behaupten, das sei doch nun wirklich unwichtig geworden. Ist es nicht. Alle, fast alle, die in unserer Gesellschaft Kapital, Macht und Bedeutung haben, tummeln sich in diesem Mikrokosmos. Darum ist er verräterisch: er lässt uns tief in die Wirklichkeit blicken, eine Gelegenheit, die uns nicht so häufig “geboten” wird. Einer meiner Nachbarn durfte mal als Gast eines Grosskonzerns in eine Vip-Loge des Fußballkonzerns im süddeutschen Raum. Was er dort sah, hatte mit Fußball nichts, mit dem real existierenden Kapitalismus aber sehr viel zu tun. Das Geschehen im Stadion, auf dem Rasen gar, war Hintergrundrauschen, wie im Moment bei mir zuhause das laufende Radio.
Die, die diese Infrastruktur betreiben, nehmen das Leben da draussen in der Wirklichkeit immer noch nicht zur Kenntnis. Die kleinen und grossen Mitgliedskonzerne der DFL fallen übereinander her. Sie fantasieren immer noch, aus “Existenzangst”, von Geisterspielen, obwohl doch ihre eigenen Spieler schon krank sind.
Diese “Existenzangst” der professionellen Fußballdarsteller – von Frauen ist in diesem Fall zu ihrer Ehre nicht die Rede – ist nur im Fußball schon so spektakulär sichtbar, erfasst aber in diesen Wochen und Monaten alle Grosskapitalbesitzer*innen. Alle wollen sie Geld vom Staat, in einem demokratischen Staat also von uns. Wir sollen sie nach der Krise retten und wieder auf die Beine stellen. Wenn die demokratische Öffentlichkeit jetzt so ausgeknipst würde, wie das öffentliche Leben, stünde nicht weniger als ein Putsch bevor. Die stärksten Lobbys würden jeden öffentlichen Besitz ausräubern, bis nichts mehr übrig ist. Erst dann wird sich erweisen, wer von den gegenwärtigen Krisenmanager*inne*n schwach, und wer stark ist. Der öffentliche Reichtum ist nicht unerschöpflich. Nur die Starken können Ehrlichkeit wagen und öffentlich sagen, wem nicht zu helfen ist. Dieser Streit wird kommen.
Ein weiteren Prüfpunkt für diese Frage gibt es schon in der Gegenwart. Weil Tierliebe so populär ist, will ich es an einem Beispiel aus dieser Branche illustrieren. In der Fleischindustrie und Landwirtschaft bricht regelmässig eine Panik aus, wenn irgendwo auf dem Globus eine Schweine- oder Rinderpest ausbricht. In Zeiten der Massentierhaltung bedeutet das Massenkeulung, massive Verluste an “animal ressources”. Jetzt bei der grassierenden Grippe muss an die Menschen erinnert werden, die in nicht unähnlicher Weise eingesperrt werden. Wie soll der “Mindestabstand” in Flüchtlingslagern, in Knästen, Obdachlosenunterkünften oder Krankenhäusern, die derzeit systemisch zu lebensgefährlichen Orten für Patient*inn*en und Arbeitende werden, gesichert werden? Nur die Krankenhäuser erfahren, völlig zurecht, jetzt die ihnen gebührende Beachtung, weil mglw. jede*r von uns sie in Kürze in Anspruch nehmen muss. Wer der Super-Verantwortlichen und Krisenmanager*innen kümmert sich um die andern Genannten und ihre Menschenwürde, ihr Überleben? NRW-Landesminister Laumann sorgt sich zurecht um kinderreiche Familien in engen Wohnungen, und will die Spielplätze für sie nicht sperren. Ich halte das für richtig. Die Ansteckungsgefahr ist dort nicht grösser, die Stärkung ihres Immunsystems aber sehr wohl. Doch was ist mit den Eingesperrten? Sind die egal?
Update nachmittags: in dem bildschönen Frühlingswetter laden hier in Beuel die Menschen ihre Batterien (und ihre Immunabwehr!) auf. Der Ausfall des Gesundheitsrisikos Arbeit, sowie die reduzierten Gelegenheiten zu Konsum und Partylärm tun den Menschen sichtbar gut: Entspannung! Eine Verbotsidee hätte ich allerdings noch: Geschwindigkeitsbeschränkung für Fahrräder am Rheinufer, Verbot von Trainingsfahrten, einzeln und im Rudel. Leider verkauft Olivotti nur noch ausserhaus; das bedaure ich sehr, aber ist ein gut begründbarer Selbstschutz.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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