Als Kind habe ich beim Westerngucken gelernt: Pokern ist kein Spiel. Es endet meistens mit einer Schiesserei, oft mit Todesopfern. Als ich das einmal bei einem Jungdemokraten-Schülerseminar in der Jugendherberge Münster ironisch brach, mit Klopapierblättern (!) statt Bargeld als Einsatz, folgte, in prophetischer Weitsicht auf heutige Zustände, ein Hausverbot. Das war Ende der 70er Jahre. Jetzt ist die Zeit, in der überall – unter Ausschaltung demokratischer Öffentlichkeit – um die Ausgangspositionen für die Post-Corona-Zeit gepokert wird.
Öffentlichkeit gibt es zum grossen Unbehagen der Bundesregierung für das Pokerspiel der EU-Finanzminister um “Corona-Bonds” (dieser Link verschwindet in einigen Tagen in einem Paywall-Archiv). Ist die EU, wie sie früher mal hiess, eine “Gemeinschaft”, oder soll jedes Land seine zukünftige Zinslast selbst auslöffeln? Die Deutschen, deren dummes Volk mit Jammerei über verschwundene Sparzinsen abgefüttert wird, wollen sich ihre Niedrigzinsen nicht von Frankreich, Italien und Spanien wegnehmen lassen. Die Bundesregierung selbst kann noch Geld kassieren, wenn sie Kredite aufnimmt. Ja, das ist wahrlich relevant. Und subjektiv ist nachzuvollziehen, dass der nach aussen coole, aber innen panische Olaf Scholz, sich diesen Rettungsanker – und seine eigenen Karriereperspektiven – nicht wegnehmen lassen will. Die EU ein Kollateralschaden – ist das hinnehmbar? Das ist, wie heute fast alles, eine Frage politischer Abwägung.

Gesundheitsbranche: Riesenfenster der Gelegenheit

Das Gesundheitswesen sieht für sich ein Riesenfenster der Gelegenheit. Im Turbokapitalismus von heute verschärfen sich nicht nur Klassengegensätze, sondern auch Konkurrenzverhältnisse. Die Chancen der Gesundheitsbranche waren nie so gut wie jetzt. Fast wie unter euphorisierende Drogen gesetzt, erkennen ihre führenden Strateg*inn*en in Business und Wissenschaft, im wahren Leben durch einen 2-Drittel-Anteil am Forschungskapital verknüpft, dass die vorerkrankte politische Klasse wie Wachs in ihren Händen funktioniert. Das meiste daran ist vermutlich sogar gut.
Alle Care-Branchen kranken daran, dass die Mehrheit ihrer unterbezahlten Beschäftigten nicht arbeitskampffähig ist, noch nicht einmal durch Tarifbindungen geschützt. In liberaler individualistischer Selbstverantwortung aufgewachsen und sozialisiert, haben sie ihren Beruf ergriffen, weil sie “Menschen helfen” wollen, eine Motivation ähnlich meiner Kriegsdienstverweigerung im Alter von 18 Jahren – durchaus mit starken systemkritischen Gedanken, die sie jedoch nicht kollektivieren. Wollten sie für bessere Arbeitsbedingungen und Bezahlung kämpfen und streiken, müssten sie ihre zu Beschützenden (= “Care”) vorübergehend “im Stich lassen”. Das bringen sie nicht übers Herz. Folgerichtig ist ihr gewerkschaftlicher Organisationsgrad so schwach – wie ihre Bezahlung. Das hat der fiese Kapitalismus sich schon intelligent ausgedacht. Kommt das jetzt in und nach der Krise anders? Ich würde es gerne glauben.

Klimarettung durch Corona?

Auch das wäre schön, ist aber sympathisch naiv. Denn das ist mindestens so bitter umkämpft, wie die Coronabonds zwischen den EU-Finanzministern. Dieser FAS-Bericht gibt einen kompakten Überblick über die klimatischen und politischen Verhältnisse. Hier übrigens der Link zur ignorierten “dekadischen Klimavorhersage” des Deutschen Wetterdienstes. Der Pegelstand des Rheins beträgt übrigens in Bonn aktuell 2,22 m, oberhalb Bonns überwiegend “fallend” (ausser Koblenz, wo die Mosel reinkommt). Wir am Rhein habens noch gut, fragen Sie mal in Brandenburg.

Kriminelle unter sich

Im Corona-geplagten New York City, im Stadtteil Brooklyn, gibt es eine tapfere Staatsanwaltschaft. Die bedroht nun das Fifa-System des “Weltfussballs” mit dem Tod. Ein Bericht von Jürgen Kalwa/FAZ und ein Kommentar von Thomas Kistner/SZ. Super, dass die Staatsanwälte sich von der Corona-Panik noch nicht anstecken lassen mussten. Wenn Fußballfans einen Nobelpreis zu vergeben hätten, wäre hier eine Nominierung fällig.
Derweil pokern Sky (zum US-Comcast-Konzern gehörig) und die DFL um einen hohen dreistelligen Millionenbetrag, um die ersten Insolvenzen zu verhindern. Dumm gelaufen für die DFL. Sie wollte gerade die TV-Senderechte für drei weitere Jahre (2021/22 – 2024/25) versteigern, unter Drogen gesetzt durch die zahlreichen neuen Streamingdienste, die in den nächsten Jahren dem absterbenden Geschäftsmodell von Sky den Garaus machen. Und jetzt müssen die Fußballoligarchen ausgerechnet bei dem Betteln gehen, für ein “Produkt” (in anderen Kategorien können die über Fußball nicht denken), das so radikal an Wert verloren hat, wie z.B. Fluggesellschaften oder Hotels ohne Takeaway.
Sie werden sich auf niedrigere Preise und “innovative” Lösungen für Sky einigen, und uns mit einem Jahr “Geisterspielen”, wie von Herrn Kekulé angeregt, vom Hausarrest ablenken wollen. Fußball ohne Stadionpublikum – das dürfte ungefähr so erregend sein, wie “Rote Rosen” oder “Sturm der Liebe”. Was machen nur die Hochleistungsspieler ohne die euphorisierenden Hormone, die ihnen das Publikum schenkt, und die jede*r kennt, die*der schon einmal auf einer Bühne gearbeitet hat?
Ich habe noch jede Menge DVDs aus der guten Zeit.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net