Die Kanzlerin hat gestern zu den Schulen kein Wort verloren. Befremdlich, denn die Corona-Krise wird das marode und autoritäre Schulsystem in Deutschland im Mark treffen – katastrophale Verhältnisse in den Schulen, weil die Kommunen als Schulträger seit Jahrzehnten nicht genügend für die Schulen ausgeben können, um Mindeststandards zu wahren. Immer noch Frontalunterricht, obwohl alle internationalen pädagogischen Erkenntnisse seit 40 Jahren sagen, dass dies die schlechteste aller Unterrichtsformen ist. Ich selber – Jahrgang 1954 – bin immer wieder entsetzt, wenn ich an die Neubauten ab 1962 oder gegen Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre – Luxussanierten Altbauten von Schulen mit Klimaanlagen. Sprachlaboren, damals modernster Technik denke, in denen ich nur noch über Streiche gegenüber den Lehrern und über politische Aktivitäten der Schüler nachdenken musste, während meine Tochter in den 90er Jahren schon in einer von uns Eltern notrenovierten, besseren Ruine in Bonn Nord Schule erleben musste.
Ja, die Schulen sind nicht vorbereitet, die Kommunen habens verpennt, darüber haben wir hier schon berichtet. Wie soll da heute IT-gestützter Unterricht stattfinden, denken manche, aber ich halte dagegen: Kriegt den Arsch hoch und macht einfach! Denn viele Ideen können jetzt durch Corona die Pädagogik und die Schule verbessern – jenseits von 50 Jahren ideologischem Schulkampf.
- Frontalunterricht wird es in Zeiten von “GoToMeeting”, Jitsy oder anderer datenschutzkonformer Lösungen des internetbasierten Videounterrrichts nicht mehr geben. Im besten Fall lernen sogar Lehrer dabei, welches die datenschutzfreundlichen und sicheren Lösungen sind. Aber: Nicht alle Lehrer wollen das – ich kann mich noch gut an die ganz gute Deutschlehrerin meiner Tochter erinnern, die am Elternabend sagte: “Ach, Herr Appel, aber eins muss ich Ihnen sagen – ich bin jetzt 55 – das mit den Computern fange ich nicht mehr an.” Ich war gerade auch 55, aus der Politik geflogen und musste mir als selbständiger Unternehmensberater eine neue Existenz aufbauen, was ohne Computer völlig unmöglich gewesen wäre – ich überlasse es Ihrer Phantasie, was ich in diesem Moment über die Dame gedacht habe.
- Kleingruppen unter 10 Schülerinnen und Schülern – schon seit den 60/70er Jahren von allen Pädagog*innen gefordert, nie verwirklicht, könnten jetzt Wirklichkeit werden. Weil uns Corona dazu zwingt. Das Lernen ist individueller und intensiver. Und es ermöglicht bessere individuelle Förderung. Es ermöglicht individuellen Austausch zwischen Schüler*innen und Lehrer*innen und einen viel besseren Lernerfolg, als jeder Frontalunterricht, weil er ich-stabilisierend auf jede*n einzelnen Schüler*in wirkt. Allerdings muss er deshalb auch – um Vorurteile oder Problemkonstellationen in Einzelfällen zu verhindern – evaluiert werden.
- Blockunterricht – eine Woche der Teil A der Jahrgangsstufe, lernt in einem ganzheitlichen Geschichtsprojekt – Geschichte, Sozialkunde, Deutsch, Fremdsprache, Statistik/Mathematik und Kunst, Musik der Epoche – alles wird innerhalb einer kompakten Woche mit 32-40 Lernstunden viel intensiver und nachhaltiger gelernt als in 80-100 Stunden, die auf 44 Schulwochen pro Jahr verteilt werden. Nach A – dann folgt Gruppe Teil B in der nächsten Woche und bei Bedarf C – wieder Blockunterricht, wenn es sich anbietet sogar Fachübergreifend – weil die Lehrer*innen fehlen oder zu den Risikogruppen gehören – aber besser, konzentrierter und IT-gestützt, was schon lange überfällig war. Das Lernen in Blöcken ist nachhaltiger, besser und wesentlich intensiver – auch eine längst gesicherte reformpädagogische Erkenntnis. Zum Beispiel die Corona-Krise: Chemie, Biologie, Virologie, Mathematik, Statistik und Politikwissenschaft sowie Rechts- und Verfassungskunde in einem Projekt zusammengefasst: Ideal, emanzipatorisch und aktuell!
- Individuellere Betreuung der Schüler*innen per Videogespräch, von Haus zu Haus, trotz Abstand mehr Kontakt und individuelleres Eingehen auf Probleme der einzelnen Schüler*innen. Direktere Betreuung des Lernfortschritts statt “Vorführen” von Schwächen vor der Klasse oder Lerngruppe. Auch hier ist erfahrungsgemäß die Bereitschaft der einzelnen Lehrer*innen, sich dieser elektronischen Mittel zu bedienen und individuelle auf Schüler*innen einzugehen, entscheidend. Und es liegt an der jeweiligen Landesregierung, dafür zu sorgen, dass solche Techniken die sicher sind, endlich zum funktionieren gebracht werden. Woran scheitert es vor allem?
- Verwendung älterer gefährdeter Lehrer*innen: Viele Lehrer*innen beherrschen diese Techniken nicht. Viele Lehrer*innen sind aber auch über 60, gehören zur Risikogruppe und haben Angst, selbst mit Maske zu unterrichten. Warum werden diese Leute nicht sofort intensiv in IT- und Unterricht über Medien aus- und weitergebildet? Die Mehrzahl sind verbeamtet – sie können notwendigerweise dienstverpflichtet werden, sich da einzuarbeiten, Zertifikate zu erwerben, warum geschieht das nicht? Warum lernen sie nicht vordringlich und ab sofort intensiv über die Sommerferien bis zu deren Ende den Umgang mit digitalen Lernformen? – Um den Start im September zu optimieren!
- Neue Lernformen per Internet – wenn es die Kapazitäten des Netzes erlauben – mit Filmen, Dokumenten, Lehrmaterialien online, sogar Prüfungen unter Video-Aufsicht, von denen die Schulen lernen könnten, wie sie der ICDL (International Certificate of digital Literacy) auch in Deutschland anbietet – theoretisch sogar online-Abitur – sind inzwischen technisch möglich. Es ist nicht hinnehmbar, wenn es einerseits solche sicheren Angebote von deutschen/europäischen Anbietern aufgrund von Standards der Europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) gibt, andererseits Lehrer sich gezwungen sehen, illegal über Datenkraken wie “Whatsapp” Hausaufgaben an Schüler zu verteilen, weil sich die Kultusbürokratien nicht imstande sehen, sichere und nicht international ausspionierte Datenverbindungen, Messengerdienste und Chatrooms allen Schulen zur Verfügung zu stellen.
- Datenschutz an der Schule: Warum kümmern sich die Datenschutz-Aufsichtsbehörden nicht stärker um die Schulen? Es kann nicht angehen, dass Datenkraken wie Zoom oder Whatsapp kritiklos an Schulen benutzt werden – warum gibt es nicht klare Richtlinien und im Föderalismus auf Landesebene angepasste Lösungen? Mit Hilfe z.B. eines Fachbeirates der Kultusministerkonferenz (KMK) von IT-Spezialisten und den Datenschutzbeauftragen von Bund und Ländern könnten schnell Bedingungen formuliert werden, wie Online-Unterricht im Schichtbetrieb von Jahrgangsstufen, der sich als Lösung des Covid-19 Infektionsproblems andeutet, erfolgreich umgesetzt werden kann. Aber diesen gibt es bisher ebenso wenig wie eine erfolgreiche Kommunikation der Kommunen über die Probleme der Corona-Sicherheitsstandards in den Schulen. Dies ist nur möglich durch Bereitstellung erforderlicher Mittel und wissenschaftlichen Zugriff auf die Landesdaten.
- Mehr individuelle Zuwendung in Gruppen von 5 – 10 Schüler*innen auf allen Ebenen wird es möglich machen, leistungsheterogene Gruppen im Internet zu etablieren. In zahlreichen Schulversuchen etwa an der Laborschule Bielefeld wurde ermittelt, dass sich Schülergruppen in denen stärkere Schüler schwächeren Unterstützung leisten, nicht nur positiv auf das Sozialverhalten auswirken, sondern dass in der Tat beide Seiten profitieren: Die “schlechteren” Schüler können i.d.R. viel leichter als vom Lehrpersonal den entsprechenden Stoff aufnehmen, die “besseren” Schüler vertiefen in der Lerntransferleistung ihr ohnehin vorhandenes Verständnis noch mehr. Wenn es die Schulen und die Ministerialbürokratie nicht völlig falsch anstellen, könnte es durch entsprechende Anstrengungen gelingen, angesichts der tatsächlichen Verhältnisse viel stärker als bisher Datenschutz- und Datensicherheitsbewusstsein bei den Schüler*innen zu wecken, zu unterstützen und auszubauen. Die Mittel sind vorhanden, sagt auch seit Jahren die Gesellschaft für Informatik (GI) sowie das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) – sie werden nur von den Schulen nicht genutzt.
- Unterstützung und Weckrufe für die Schulträger: Die Kommunen haben die Tage der Schließung über die Ostertage völlig verschlafen. Viele Ämter mit Besucherverkehr wurden geschlossen, die Mitarbeiter*innen etwa des Einwohneramtes meiner Heimatgemeinde wurden bei vollen Bezügen nach Hause geschickt. Für andere Aufgaben gab es niemanden, der sie erledigen konnte. In den derweil vergangenen drei Wochen hätten Bestandsaufnahmen in den Schulen gemacht, Aufträge an Handwerker vergeben werden können, um notwendige Installationen im Sanitärbereich vorzunehmen, Seife, Handtücher und Desinfektionsmittel zu kaufen und auch die Schulen ausreichend mit Schutzmasken auszustatten. In vielen Gemeinden haben die Verwaltungen dabei jede Flexibilität vermissen lassen.
- Digitalpakt umsetzen: Nach wie vor gilt, dass von 5 Milliarden € lächerliche 20 Mio. abgerufen wurden. Warum wurden nicht die Vergabe und Förderanträge in diesem Bereich längst drastisch vereinfacht, um z.B. Schülern aus einkommensschwachen Schichten den Zugang zu Laptops und WLAN für IT-gestützten Unterricht zu ermöglichen? Warum wurden nicht massive Anstrengungen eingeleitet, um die Übertragungskapazitäten zu erhöhen, Schulen auch mit ausreichend WLAN und schnellen Internetverbindungen und Breitband auszustatten?
Die gesamte Schulorganisation und auch der Unterricht werden durch Corona niemals wieder dieselben sein wie zuvor. Sie erfordern tiefgreifende Umstrukturierungen, aber auch die Bereitschaft, diese anzugehen. Sie müssen angepackt werden und die herkömmlichen Strukturen überwinden. Dabei gilt es, die Bürgerrechte keinen Schritt weiter als unbedingt begründbar und geboten weiterhin einzuschränken. Natürlich gilt es, die Infektionsraten im Blick zu behalten. Untersuchungen deuten darauf hin – dass Kinder nicht “harmlos” sind, was die Infektionsrate betrifft. So ist es, wenn ein Virus erst noch erforscht werden muss. Irrtümer sind nicht vermeidbar und wir müssen sie akzeptieren!
Aber es kann nicht angehen, dass vor allem den Verwaltungen vor Ort jede Kreativität im Umgang mit der Krise fehlt. Viel zu viele im Schulsystem warten noch auf den “Erlass” von oben, vom KuMi, anstatt selbst zu überlegen, mit welchen unkonventionellen Mitteln der Schulbetrieb vor Ort wieder aufgenommen werden kann, und damit komme ich zu Punkt 11: Zentralabitur, Zentrale Lehrpläne, Einheitsbildung, gleiches Niveau, Einheitslehrpläne, alles, was in den letzten 15-20 Jahren unter dem Aspekt scheinbarer Vergleichbarkeit der einzelnen Schule z.T. von Unternehmensberatungen diktiert oder verordnet wurde, wird der Vergangenheit angehören, Corona wird vielleicht dafür sorgen, auch Schulen wieder von Bürokratie zu befreien.
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