Von Günter Bannas
Die Zeiten ändern sich – und wir uns in ihnen? Vor zwölf Monaten wurde das Grundgesetz gefeiert. Kurzfassung von Festreden und Jubiläumsartikeln: 70 Jahre Erfolgsgeschichte, beste Verfassung, die Deutschland je hatte. Seit März haben sich Verhältnisse und Anforderungen verschoben. Grundrechte wurden durch Rechtsverordnungen eingeschränkt oder gar außer Kraft gesetzt: Reisefreiheit, Versammlungsfreiheit, freie Ausübung des Berufs, Religionsfreiheit. Maßstäbe staatlichen Handelns sind nicht mehr nur die Freiheitsrechte, sondern auch die (ebenfalls im Grundgesetz niedergelegten) Ausnahmen und für deren Begründung dann Berechnungen und Erkenntnisse, Prognosen und selbst Schätzungen. Sogar die Rangordnung von Eckpfeilern der Verfassung ist angesichts der Corona-Herausforderungen umstritten. „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“ versus „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“.
Verfassung und Verfassungswirklichkeit sind wieder Gegenstand des politischen Streites geworden. Manches Gesagte ist gedankenlos, anderes schwer erträglich, als stünden – von den vermeintlich Mächtigen beabsichtigt – „1933“, die „DDR“ oder „Bill Gates“ vor der Tür. Rechtsextremisten instrumentalisieren das Grundgesetz für ganz andere Zwecke. Manche wollen mit abstrusen Behauptungen den Eindruck erwecken, sie allein sorgten sich um Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat. Demokraten sollten Obacht geben. Und: Nicht sie sind begründungspflichtig, wenn die Einhaltung von Grundrechten eingeklagt wird. Das Verweigern von „Lockerungen“ muss begründet sein. Immerhin nehmen Parlamentarier im Bundestag und den Landtagen nicht mehr alles widerspruchslos hin, was ihnen Regierungen und Beamtenschaft vorsetzen. Auch lassen – nach anfänglichem Zögern – die Gerichte den Verwaltungen nicht mehr alle Einschränkungen des täglichen Lebens durchgehen. Der deutsche Konkurrenzföderalismus – erkennbar am Streit zwischen Bundes- und Landesregierungen über den besten Weg zur Bewältigung der Krise – erweist sich als Baustein demokratischer Verhältnisse. Demokratie im Normalzustand heißt: Streit, auch heftiger. Der Untertanengeist in Deutschland ist, gottseidank, den Maskenträgern zum Trotz nicht wiederauferstanden. Das Grundgesetz hat – bisher – seine Bewährungsprobe bestanden. Sein 71. Geburtstag am kommenden Samstag kann gebührend begangen werden.
Günter Bannas ist Kolumnist des HAUPTSTADTBRIEFS. Bis März 2018 war er Leiter der Berliner Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus “DER HAUPTSTADTBRIEF AM SONNTAG in der Berliner Morgenpost”, mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion. © DER HAUPTSTADTBRIEF
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