von Robertha Barros und Paulo Victor Melo
In Brasilien erkranken und sterben deutlich mehr Bewohner*innen armer Viertel als wohlhabender Bezirke an COVID-19

Der Theologe und Philosoph Leonardo Boff schrieb jüngst, dass die Coronapandemie eine „einmalige Möglichkeit darstellt, unsere Lebensweise im gemeinsamen Haus (Motto einer 2016 entstandenen Initiative des nationalen Rats christlicher Kirchen Brasiliens) zu überdenken“. Die Autor*innen des nachfolgenden Beitrags zeigen, wie weit Brasiliens Städte heute davon entfernt sind, ein „Gemeinsames Haus“ zu sein, in dem alle Bewohner*innen menschenwürdig leben und ihre Gesundheit schützen können. Aber sie teilen die Hoffnung Leonardo Boffs, dass ein Umdenken möglich und vor allem dringend notwendig ist.

Für viele Millionen ist Sicherheit nicht möglich

Die Daten des IBGE (statistisches Bundesamt in Brasilien) zeigen, dass die ärmsten Teile der Bevölkerung, nämlich Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen (etwa 11,4 Millionen) sowie Arbeitslose (12 Millionen), von COVID-19 und seinen Folgen überproportional betroffen sind. Obwohl auch ihr Recht auf Mobilität durch Ausgangssperren und Einschränkungen des Nahverkehrs stark beschnitten ist, können wegen der räumlichen Enge in den Vierteln Abstände kaum eingehalten werden. Die großen Menschenansammlungen gefährden gerade heute das Recht auf gesundheitliche Unversehrtheit. Nicht einmal am frühen Morgen, nicht in Krankenhäusern und auch nicht auf Pflegestationen ist Sicherheit möglich. Gleichzeitig ist das Grundrecht auf menschenwürdige Behausung für die Einwohner*innen sozial schwacher, dicht besiedelter Quartiere ohnehin nicht gewährleistet.
Allgemein sind in Brasilien wichtige Ressourcen, wie Infrastruktur und öffentliche Dienste, an bestimmten Orten, den so genannten „formellen“ Bereichen, konzentriert, obwohl dort nur ein kleiner Teil der Bevölkerung lebt, die Bevölkerungsdichte eher niedrig ist und die Einwohner*innen überwiegend mittlere und höhere Einkommen beziehen.
Die „Stiftung Oswaldo Cruz” (Fiocruz) hat deshalb Anfang April in einem öffentlichen Aufruf Hilfsmaßnahmen für gefährdete Bevölkerungsgruppen gefordert: „In einem von enormer sozialer Ungleichheit geprägten Land wie Brasilien müssen die sozialen Bedingungen jedes einzelnen Bereichs in den Blick genommen werden. Die Pandemie trifft nicht alle im selben Ausmaß und mit denselben Konsequenzen, weshalb selbstverständlich auch die Maßnahmen und Strategien der Eindämmung an den jeweiligen Kontext anzupassen sind. Bisher beziehen sich Maßnahmen zur Prävention fast ausschließlich auf die Lebensumstände der Mittelschicht: Quarantäne und Selbstisolierung in der eigenen Wohnung, Vermeidung von Menschenansammlungen, individueller Gebrauch von Desinfektionsgel und so weiter. Doch die Mehrheit der Bevölkerung hat all diese Möglichkeiten bekanntermaßen nicht“, so Nísia Trindade Lima, die Präsidentin der Stiftung.

Hohe Sterblichkeit

Bereits am 20. April waren OFFIZIELL mehr als 40 000 Menschen in Brasilien mit COVID-19 infiziert und mehr als 2500 Todesfälle bekannt, die Fallsterblichkeit wird derzeit auf 6,3 Prozent geschätzt. Doch die Dunkelziffern sind nicht nur in Brasilien hoch. Mathematische Modellierungen der Londoner Hygiene- und Tropenmedizinhochschule legen für Brasilien die elffache Zahl der offiziell gemeldeten Infizierten nahe. Auch Open Knowledge Brasil verweist darauf, dass 90 Prozent der Bundesstaaten und die Regierung Bolsanaro kaum Daten veröffentlichen, die es gestatten würden, die Ausbreitung der Pandemie in Brasilien detailliert nachzuvollziehen. Mehrere Indizien lassen eine hohe Dunkelziffer vermuten: ein enormer Anstieg der Fälle mit akuter Ateminsuffizienz in den Notaufnahmen der Krankenhäuser im Vergleich zu Vorjahreszahlen; die hohe Sterberate bei Menschen, die auf COVID-19 getestet wurden; starke Abweichungen der Zahlen von lokalen Meldeämtern und dem Bundesgesundheitsministerium über Todesfälle durch COVID-19, und nicht zuletzt die extrem geringe Zahl der Getesteten insgesamt (29 pro 100 000 Einwohner*innen).

Die soziale Ungleichheit in Brasilien ist nicht von race und ethnicity zu trennen. Die schwarze Bevölkerungsmehrheit (56 Prozent laut statistischer Bundesbehörde) ist aktuell am gefährdetsten. Sie ist zugleich jene Gruppe, deren Grundrechte am stärksten beschnitten werden. Neuere Erhebungen bestätigen, dass 44,5 Prozent der Schwarzen in Brasilien in Vierteln ohne grundlegende sanitäre Ausstattung leben (also ohne systematische Wasserversorgung, Müllabfuhr, Abwasserentsorgung). In den zwei größten Städten Brasiliens, São Paulo und Rio de Janeiro, leben 18,7 Prozent beziehungsweise 30,5 Prozent der schwarzen Bevölkerung in Behausungen weit unter jedem Standard (während der Anteil der weißen Bevölkerung hier nur 7,3 beziehungsweise 14,3 Prozent beträgt). Diese Ungleichheiten bilden sich auch in der Pandemie ab. 23 Prozent mehr Schwarze als Weiße befinden sich auf den Krankenstationen und sie haben eine um 33 Prozent höhere Sterblichkeitsrate durch COVID-19. In diesen Zahlen spiegeln sich nicht zufällige Verteilungsprozesse, sondern wirtschaftliche und gesellschaftliche Ungleichheiten auf globalem Niveau.
Fast 67 Prozent der Brasilianer und Brasilianerinnen, die auf die (rudimentäre) staatliche Gesundheitsversorgung angewiesen sind, sind schwarz. Sie stellen gleichzeitig die Mehrheit der Patienten mit Diabetes, Tuberkulose, Bluthochdruck, Herz- und Nierenerkrankungen dar, die im Zusammenhang mit COVID-19 zur Hochrisikogruppe gehören. Diese Komorbiditäten hängen eng mit sozialen Umständen zusammen, vom Fehlen sanitärer Grundausstattung bis hin zu prekären Lebens- und Arbeitsverhältnissen, die diese (Vor-)Erkrankungen befördern.

Zonen der Reichen und der Armen

Für uns bestätigen sich an dieser Stelle die Forschungen zur „Refiguration von Räumen” am Sonderforschungsbereich (SFB) 1265 der TU Berlin, dass das Krisenszenario von COVID-19 in einer von Ungleichheit und Spätkapitalismus geprägten Gesellschaft wie der brasilianischen ein Nachdenken über die extremen Spannungen zwischen verschiedenen Raumlogiken in einer globalisierten Welt umso dringender macht. Wie Hubert Knoblauch und Martina Löw aufzeigen, ist die soziale Dimension der Pandemie räumlich zu fassen. Sie verschärft gerade deshalb auch Interessenskonflikte. Das Konzept der Refiguration von Räumen wirft ein neues Licht auf die räumlichen Auseinandersetzungen und Spannungen, um die es in Brasilien geht. Dort zeigt sich deutlich, dass der urbane Raum in formelle und informelle Bereiche geteilt ist, in Zonen der Reichen und der Armen, die in einem Hochspannungsfeld miteinander ringen, bis die Schwächeren verlieren. Die Produktionsmuster in brasilianischen Großstädten, die auf der strikten Trennung (und Merkantilisierung) von Räumen für Reiche und Räumen für Arme gründen, spiegeln einen strukturellen Rassismus, der soziohistorisch bedingte Ungerechtigkeiten beständig aufs Neue entstehen lässt.

In den Konflikten in städtischen Räumen in Brasilien zeigen sich deutliche Spannungen und Widersprüchlichkeiten zwischen dem Recht auf Stadt und dem Recht auf Eigentum. In dieser Spannung verfestigen sich soziale Ungleichheiten. Der Geograf Milton Santos (Santos, Milton. O espaço do cidadão. São Paulo: Nobel, 2000. / Santos, Milton. Por uma outra globalização. São Paulo: Record, 2004) verweist in dem Zusammenhang auf die dominierende kapitalistische Grundordnung einer pervertierten Globalisierung, bei der Hegemonialkräfte (Finanzinstitutionen, multi- und transnationale Unternehmen), die nach globaler Mehrwertmaximierung streben, Territorien und Räume unterlaufen, indem sie hoch selektiv und spaltend agieren.

“Informelle” Räume

Dem gegenüber stehen die sogenannten „informellen“ Räume der Stadt, in denen ein großer Teil der brasilianischen Bevölkerung lebt. Dort haben die meisten Menschen kein oder nur ein geringes Einkommen. Das sind genau die Menschen, die nun am meisten unter der Pandemie leiden, weil sie über keinen eigenen oder nur ungenügenden Wohnraum verfügen und die materiellen Bedingungen nicht erfüllen, die die WHO und andere internationale (oder nationale) Organisationen zur Gesundheitssicherung empfehlen. Diese Menschen sind Arbeitslose, Arbeitskräfte im Bereich der informellen Ökonomie, Obdachlose und andere Schutzbedürftige, die tagtäglich ihre Grundrechte aufs Neue erkämpfen müssen. Die Journalistin Naomi Klein bezeichnet das Coronavirus als „mustergültige Katastrophe für den Katastrophenkapitalismus“ und erinnert daran, dass „in Zeiten großer Veränderungen das eben noch Undenkbare plötzlich Realität wird“.
Dies zeigt sich in der Coronakrise am Beispiel Irlands, wo die Regierung nun sechs Wochen lang Hilfsgelder an diejenigen verteilt, die ihren Arbeitsplatz verloren haben. In Großbritannien wurde ein Maßnahmenpaket beschlossen, das die Übernahme von 80 Prozent des Gehalts der Arbeitnehmer*innen staatlicherseits beinhaltet, um Entlassungen zu verhindern. Deutschland, bekannt für seine strenge Sparpolitik, kündigt ein 800-Milliarden-Euro-Paket an, um die Wirtschaft zu unterstützen, wobei ca. 180 Milliarden Euro für Sozialausgaben eingeplant sind. In Venezuela übernimmt der Staat für die nächsten sechs Monate die Gehälter der Angestellten kleiner und mittlerer Betriebe in der Privatwirtschaft. Selbst in Brasilien, wo Präsident Jair Bolsonaro lautstark ein Ende der (Selbst-)Isolation und Rückkehr zur „Normalität“ fordert und durch öffentliche Auftritte selbst große Menschenansammlungen herbeiführt, stechen einige Maßnahmen positiv hervor, zum Beispiel ein dreimonatiger Notzuschuss von 600 Reais (ca.104 Euro) für Arbeiter*innen im informellen Sektor, die weder Sozial- noch Rentenleistungen beziehen, der kürzlich durch den Nationalkongress verabschiedet wurde. Das lässt zumindest hoffen auf mehr soziale Gerechtigkeit.

Stadt als gemeinsame Welt

Solche Hoffnungen sollten jedoch nicht die Herausforderung verdecken, die es mit sich bringt, Stadt als einen öffentlichen Raum zu denken und zu leben; einen Raum, der in eine gemeinsame Zukunft weist und uns überdauert. Als Gemeinschaft sind wir mehr als bloß Individuen und Vielfalt ist ein elementarer Bestandteil einer gemeinsamen Welt. Und was kann Stadt anderes sein als eine gemeinsame Welt? Diese Frage stellt sich zweifellos als raumbezogene.

Robertha Barros ist Stadtplanerin und Doktorandin im Fachbereich Entwicklung und Umwelt an der brasilianischen Bundesuniversität Sergipe. Sie ist derzeit als Gastwissenschaftlerin an der TU Berlin und am SFB 1265. Paulo Victor Melo ist Journalist. Er hat im Bereich Kommunikation und zeitgenössische Kultur an der Universität Bahia promoviert.
Eine Langfassung des vorliegenden Beitrags gibt es hier. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 435, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt.

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