Rezos Pressekritik
mit Update 4.6.
Der Kerl hats geschafft. Von 0 auf 1. Bis heute 1,8 Mio. Aufrufe, das schafft im Medienjournalismus sonst niemand. Mit weitem Abstand. Und mittlerweile nehmen ihn alle ernst. Willkommen. Der Durchschnitt wird durch ihn auch und gerade qualitativ steil nach oben gezogen. Ich habe mir gestern Abend die Stunde genommen. Nicht alles hat mich begeistert.

Die Form

Sie erinnerte mich an meine Messdienerzeit, als ich 8-13 war. Die richtig guten Kapläne haben auch so gepredigt, allerdings kürzer. Eine ganze Stunde, puuh. Ich bin nicht weggenickt, wollte nichts verpassen, weil der Kerl ja jetzt eindeutig relevant ist – aber zum Kühlschrank, oder eine neue Flasche aus dem Keller holen, dafür hats allemal gereicht, mehrmals.

Unnötige Wiederholung

Das Predigen gegen “Verschwörungstheorien” kommt mir mittlerweile überall genauso wieder raus, wie Corona-Sondersendungen von ARD und ZDF. Musste das für Rezos Zielgruppe sein? Vielleicht. Für mich waren die ersten 10-15 Minuten so weitgehend verschenkt.

Narzissmus oder Kompetenz?

War es ein Indiz für Narzissmus, dass Rezo so viel über sich selbst und “die Medien” spricht. Es erinnerte ein bisschen an den beleidigten Christian Drosten. Als Effekt dreht sich dann alles selbstreferentiell im Kreis. Was daran ist für Dritte interessant? Rezo verwendete nicht nur erkleckliche Redezeit darauf, sondern auch viele Tage Recherche- und Auswertungsarbeit, beeindruckend nachvollziehbar mit ellenlanger Excel-Tabelle, das hat schon “Anstalt”-Niveau (nicht verpassen! – mit elaborierter Gates-Stiftungs-Kritik). Seine Begründung ist charmant-stimmig: über nichts weiss er besser, was die “Wahrheit” ist, als über sich selbst. Und tatsächlich wird deutlich, wie viele Medien mit Wahrheit und Menschen umgehen: grenzwertig, zum Teil (!) extremistisch.

Differenzierung statt Vereinfachung

Rezo vermeidet den anfänglichen Drosten-Fehler, von “den Medien” oder “der Presse” zu schwadronieren. Er führt sogar eine Tabelle, wer aus seiner Sicht besonders übel (Springerpresse/FAZ), und wer weniger übel arbeitet. Keine Neuigkeit. Obwohl: für sein Publikum vielleicht doch?

Meine Anregung fürs nächste Mal: was fehlt

Er teilt ein in Schlechte und Bessere, Er beklagt und appelliert. Er gibt richtige Ratschläge, wie sich Vertrauen erarbeiten lässt. Aber er hat keine Analyse: warum ist es so, wie es ist? Was sind die Triebkräfte, Interessen, Herrschafts-, Macht- und Kapitalverhältnisse? Wäre es zu kompliziert gewesen? Hat die Zeit (in einer ganzen Stunde) gefehlt? Weiss er zuwenig? Oder hat er es sich aufbewahrt, für ein nächstes Mal? Das wäre die erfreulichste Variante. Wenn er das ähnlich gründlich arbeitet, könnte er der legitime Nachfolger von Horst Röper werden. Mund abputzen, weitermachen!
Update 4.6.: zur Vertiefung eignet sich dieses Gespräch von Markus Beckedahl/netzpolitik mit Rezo (Video 40 min.)

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net