Tagesschau24 wiederholte gestern Abend den Dokumentarfilm “System Error” von Florian Opitz. Leider haben es die mitproduzierenden ARD-Sender WDR (eine der letzten guten Taten von Redakteurin Sabine Rollberg) und BR auch in diesem Fall versäumt, hinreichende Mediathekrechte zu sichern. Wie der im Film analysierte Kapitalismus sind auch die Produzent*inn*en so sehr auf Kapitalzirkulation angewiesen, dass sie ihn noch als DVD zu verkaufen versuchen. Ich hatte das Werk schon bei einer früheren Ausstrahlung gesehen. Doch heute wirkt es anders. Es hat Patina angesetzt. Schuld ist das Virus.
Schön eingestreut werden in dem Film Karl-Marx-Zitate. Eins zeigt ihren Urheber nicht nur als ersten grossen Weltökonomen, sondern auch als frühen Ökologen (über die Ausbeutung des Bodens). Die zweifelnde Spekulation des Filmautors Opitz, wie das alles enden könnte, wird am Schluss erfreulich geradegerückt von einem seiner Kronzeugen, Tim Jackson, Club of Rome-Mitglied und Professor in Surrey/UK, mit einem feinen Gramsci-Zitat.
Doch zum Einsturz kommt die marode Konstruktion des Systems – leider – nicht durch revoltierendes Proletariat, sondern – erneut leider, leider – ein teuflisches Virus. Während in Opitz’ Film noch Flugzeugbauer von unermesslichen Marktpotenzialen schwärmen, hat sich erwiesen, dass diese Flugzeuge das Virus in Schallgeschwindigkeit über den Globus verteilt haben. Die Ausbrüche geschahen in fast allen Ländern in Städten und Regionen, die personalisierten Direktanschluss an die Globalisierung haben.
Die am schlimmsten betroffenen Länder sind vielleicht die, die Systeme haben, Virusausbrüche und -verläufe effektiv zu erfassen. In China, der aufsteigenden Weltmacht, wurde es zuerst festgestellt. Und nur mit Verzögerung, Mühe und Not wurden dort die Fehler der Staatsführer Trump, Johnson und Bolsonaro vermieden, die heute die Spitze der vom Virus getroffenen Länder, Infektionen und Todesopfer, bilden. Johnsons UK, das einst über einen weltberühmten Nationalen Gesundheits Service (NHS) verfügte, hat diesen gemäss der in System Error dargestellten Kapitalismus-Gesetzmässigkeiten so zugunsten privaten Kapitals ruiniert, dass ausgerechnet dort die meisten Corona-Toten pro Einwohner*in zu betrauern sind.
Im letzten Quartal gab es kein Wachstum mehr. Den statistisch höllischsten Absturz erlebt das einst mächtigste Land der Welt, die USA, dass sogar der Kollateralnutzen, nicht zuletzt für den Kapitalismus, winkt, dass der Versager an der Staatsspitze abgewählt werden könnte.
Das Virus geht nicht weg. Es könnte eher Gesellschaft durch weitere Viren bekommen. Der Film konnte es nicht wissen, ahnte es nur nebulös. Das System, das jetzt so abstürzt, hat die Räume für Tierwelt und natürlich Viren so eingeengt, dass konkurrierende arten und Fressfeinde die historisch gewachsenen Abstandsgebote und -gewohnheiten nicht mehr einhalten können. Die Viren springen über, um zu überleben. Eine Rache der Natur? Einerseits funktional ja. Andererseits: die Natur hat keine Gefühle, also keine Rachsucht. Die haben nur wir Menschen. Kein hilfreiches Gefühl, eher lebensgefährlich.
Der Kampf, der sich jetzt schon abspielt, ist der zwischen denen, die auf den durch das Virus beschleunigten Kapitalismus-Tendenzen zu surfen versuchen, und denen, die zur Umkehr rufen, um den Planeten und seine Menschheit am Leben zu lassen. Hierzulande sind es noch allzu wenige, die schon begriffen haben, wie scharf dieser Gegensatz ist, und wie bitter es ist, ihn austragen zu müssen.
In dieser Hinsicht bleibt “System Error” aufklärerisch. Mann und Frau sollte sich die auftretenden Protagonisten, ausnahmslos Männer, genauer ansehen. Vor allem die, die besonders “irre” wirken. Sie sind es nicht. Sie haben nur andere Interessen. Dass wir das irre finden, markiert die Schärfe dieser Interessen-Gegensätze. Ob die Grünen das verstehen?

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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