Emine Sevgi Özdamars „Das Leben ist eine Karawanserei – hat zwei Türen – aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus“ auf der Bühne. Als burleske Nacherzählung im Heimathafen versemmelt
Gastarbeiter. So nannten die Westdeutschen die Arbeitskräfte, die Anfang der 1960er Jahre aus der Türkei und anderen südeuropäischen Ländern zu ihnen kamen. Im Türkischen wurde damals das Wort „Gurbet“ zum Synonym für Deutschland: „Die Fremde“.

Eine der Autor:innen, die die Fremdheitserfahrung dieses mehr oder weniger freiwilligen interkulturellen Austauschs mit am produktivsten verarbeitet hat, ist wohl Emine Sevgi Özdamar. „Das Leben ist eine Karawanserei – hat zwei Türen – aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus“. Schon im Titel ihres 1992 erschienenen Debütromans klingt der ihr eigene, unwiderstehliche poetische Sog an. 1991 gewann die 1946 im kurdischen Malatya Geborene damit den Ingeborg Bachmann-Preis. Özdamar erzählt darin die Geschichte eines jungen Mädchens, das in der Türkei der 1950er und 1960er Jahre aufwächst. Die Coming-of-Age-Story Ihres Alter Ego beginnt im tiefsten Anatolien. Sie führt über Istanbul und endet in einem Zug nach Deutschland. Die junge, rebellische 18-Jährige macht sich gegen alle Widerstände auf, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.

Der Bilderreichtum, die Mischung aus arabischer, türkischer und deutscher Sprache, die skurrile Metaphorik dieser einzigartigen Autorin sind gute Gründe, ihren legendären Klassiker auf die Bühne zu bringen.

Schließlich kommt Özdamar selbst vom Theater, stand schon in der Türkei auf der Bühne. Und in Deutschland arbeitete sie nicht nur in der Elektrofabrik Telefunken in West-, sondern auch als Regieassistentin Benno Bessons an der Volksbühne im damaligen Ostberlin. Jeder, der Özdamars Prosa kennt, nimmt Regisseurin Gökşen Güntel die Faszination von den „großen, mutigen, grotesken Bildern“ ab, die diese Autorin in ihren Beschreibungen entstehen lässt. Güntel hat nun Özdamars Romantrilogie „Sonne auf halbem Weg“ in zwei ihrer drei Bestandteile zerlegt.

Der erste Teil der Dramatisierung, der am Samstagabend im Neuköllner Heimathafen Premiere hatte, folgt dem „Karawanserei“-Band. Leider versenkt Güntels Inszenierung dessen reiches poetisches Potenzial in einer schrillen Nummernrevue, die zwischen schenkelklopfendem Volkstheater und Castorf-Remake schlingert.

Es fängt schon damit an, wie die Protagonistin das Licht der Welt erblickt. Ihre Mutter speit sie als blutverschmiertes Stoffbündel von einer Rampe. Ihr Großvater agiert in Hausmantel und mit Krummschwert.
Keine ironische Brechung also. Nirgends
Die introspektive Ebene, die Güntel mit den Bildschirmen links und rechts der Bühne einzieht und die Gefühlswelt der Personen einfängt, die auf der Bühne Kasperletheater spielen, ist da nicht viel mehr als ein hilfloser Entschleuniger. Es hilft auch nichts, dass Güntel das Stück dadurch ins Pop-Genre hebt, dass sie es in ein Gazino verlegt – jene aussterbenden türkischen Nachtclubs mit Livemusik und Restaurantbetrieb. Sie rahmt die Szenen von Özdamars Geschichten mit einem Ost-West-Schlager-Potpourri. Mal singt die Rapperin Aziza A. als legendärer türkischer Barde Zeki Müren schmachtende Liebeslieder. Als der Vater der Protagonistin diese bei einem Streit ohrfeigt, intoniert sie dann Cat Stevens‘ „Wild World“. Begleitet wird sie dabei an Klavier und Klarinette von Yurdal Çağlar und Bekir Karaoğlan. In wenigen Monaten jährt sich das Anwerbeabkommen zwischen der Türkei und der Bundesrepublik zum 60. Mal. Das ist ein guter Grund, Özdamars wunderbare Geschichten auf die Bühne zu bringen. Freilich lässt die Inszenierung kaum etwas davon aufscheinen, was heute unter dem Stichwort postmigrantisch diskutiert wird. Sie wirkt wie eine überzogen burleske Nacherzählung der exemplarischen Erzählung der ersten „Gastarbeiter“-Generation. In einem Kontext wie Neukölln dürften diese Geschichten den Menschen aus allen Ohren quellen. Die Einwürfe des allzu lauten, aber laufstarken Ensembles (Gisela Aderhold, Uğur Kaya, Hasan Ali Mete, Hürdem Riethmüller, Mina Sağdiç), die Özdamars Geschichten aus heutiger Sicht kommentieren sollen, sind dagegen so spärlich gesetzt, dass sie in der brachialen Slapstick-Komik untergehen.

Keine ironische Brechung also. Nirgends. So gesehen dokumentiert der Abend unfreiwillig, wie schwierig es ist, Migrantisches und Postmigrantisches ästhetisch angemessen in ein Verhältnis zu bringen.

Doch noch bleibt Hoffnung. Der zweite Teil der „szenisch-musikalischen Zeitreise“ baut auf Özdamars Roman „Die Brücke vom Goldenen Horn“ von 2002 auf. Anfang Oktober geht es um das politische und sexuelle Erwachen der Protagonistin in Berlin. Dann will Güntel weniger auf Revue als auf Lesung setzen.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme von taz.de, mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.

Über Ingo Arend:

Der Autor ist Politologe und Historiker, er schreibt über Kunst und Politik. Stationen machte er beim Freitag, bei der taz und beim Deutschlandfunk Kultur. Er ist Mitglied im Präsidium der neuen Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK).