von Ayline Heller/Ana Nanette Tibubos/Manfred Beutel/Elmar Brähler – Otto Brenner Stiftung
Einstellungen zur deutschen Einheit im Wandel
Zusammenfassung der Ergebnisse und Fazit

Auch knapp 30 Jahre nach der Wiedervereinigung spielt die Teilung Deutschlands im öffentlichen Diskurs und in den Köpfen der Menschen eine wichtige Rolle. Während die Berichte der Bundesregierung jährlich über die wirtschaftliche Annäherung Auskunft geben, fehlten bisher Studien, die die „Einheitsmentalität“, also die Einstellungen der Bürger*innen zum je anderen Teil Deutschlands sowie zur Wiedervereinigung, im Zeitverlauf und in verschiedenen Geburtsjahrgängen differenziert untersuchten. Eine Analyse des mentalen Annäherungsprozesses ist jedoch zentral, da mangelnder sozialer Zusammenhalt Spaltungsprozesse begünstigt, Vorurteile schüren und somit den demokratischen Zusammenhalt nachhaltig gefährden kann.
Der größte bisher zu dieser Thematik analysierten Datensätze
Ziel der vorliegenden Studie war es daher, zu untersuchen, welche Rolle die „Mauer in den Köpfen“ der Menschen nach wie vor spielt. Dafür wurden Daten von über 10.000 Befragten zu vier Erhebungszeitpunkten der letzten 30 Jahre herangezogen und anhand mehrerer Indikatoren analysiert. Es handelt sich dabei um einen der größten bisher zu dieser Thematik analysierten Datensätze. Als zentrales Maß für die soziale Kohäsion, das Zusammengehörigkeitsgefühl, wurde das Fremdheitsempfinden gegenüber dem je anderen Teil Deutschlands ausgewertet. Auch die individuelle Bewertung der Wiedervereinigung wurde herangezogen, über die Frage, als wie groß die entstandenen Vorteile für die ost- und westdeutsche Bevölkerung eingestuft werden. Die Aufteilung der Befragten nach Alterskohorten ermöglichte es zudem, zusätzlich zum allgemeinen Zeittrend die Veränderungen über die verschiedenen Generationen hinweg zu beurteilen und zueinander in Beziehung zu setzen. Der „Nachwendegeneration“ der nach 1989 Geborenen wurde in einem Exkurs zur Beurteilung des Sozialismus als Idee zusätzliche Aufmerksamkeit geschenkt.
Insgesamt sprachen alle Indikatoren für einen wachsenden gesellschaftlichen Zusammenhalt der beiden Teile Deutschlands, wenngleich auch nach wie vor Unterschiede zwischen den Bevölkerungsgruppen zu verzeichnen sind.
So beurteilten mehr als 20 Prozent der west- und ostdeutschen Bevölkerung die Bewohner*innen des je anderen Teils als fremd. Dabei schätzt die Bevölkerung in den neuen Bundesländern die westdeutsche Bevölkerung ähnlich fremd ein, wie es die Bevölkerung der alten Bundesländer im Falle der ostdeutschen Bevölkerung tut. Es konnte jedoch ein positiver Zeittrend aufgedeckt werden.
In beiden Teilen Deutschlands nimmt das Fremdheitsempfinden des je anderen Teils seit der Wiedervereinigung stetig ab.
Je jünger umso ähnlicher
Die Analyse der Bewertung der Wiedervereinigung ergab ebenfalls eine starke Annäherungstendenz in den Einstellungen der ost- und westdeutschen Bevölkerung. Zwar wurden nach wie vor Unterschiede zwischen den beiden Gruppen gefunden. Unter Berücksichtigung des Erhebungszeitpunktes, also der zeitlichen Distanz zur Wiedervereinigung, sowie des Geburtsjahrgangs reduzierte sich die Stärke dieser Auswirkungen jedoch drastisch.
Je größer der zeitliche Abstand zur Wiedervereinigung war und je jünger die Befragten waren, desto ähnlicher beurteilt die ost- und westdeutsche Bevölkerung die entstandenen Vorteile durch die Wiedervereinigung.
In beiden Fällen, sowohl bei der Bewertung der Vorteile der Wiedervereinigung für die alten als auch bei der Bewertung der Vorteile für die neuen Bundesländer, war dieser Effekt auf eine Annäherung in der Bewertung über die Messzeitpunkte hinweg sowie zwischen den Kohorten zurückzuführen.
Mit der Zeit sind Ost- wie Westdeutsche immer häufiger der Meinung, dass der „eigene“ Landesteil vielleicht doch mehr profitiert hat als gedacht – und der „andere“ Landesteil vermutlich weniger.
Jammer-Wessis
In Bezug auf die Bewertung der eigenen Vorteile im Vergleich zu den Vorteilen der anderen ergab sich ein weiterer bemerkenswerter Befund. Entgegen dem weit verbreiteten Stereotyp des „Jammer-Ossis“ konnte gezeigt wer-den, dass die westdeutsche Bevölkerung die eigenen Vorteile viel eher ausblendete als der ostdeutsche Bevölkerungsteil. Zwar bewerteten die beiden Gruppen die Wiedervereinigung für den je anderen Teil Deutschlands durchweg als positiver als für sich selbst, der Unterschied war jedoch im Osten konstant geringer. Die eigentlichen „Jammerer“ gab es demnach (zumindest zeitweise) eher aufseiten der westdeutschen Bevölkerung. Im Jahr 2018, knapp 30 Jahre nach dem Fall der Mauer, kam es in der westdeutschen Bevölkerung dann jedoch zu einem sprunghaften Anstieg in der Bewertung der eigenen Vorteile. In Westdeutschland bedurfte es somit einer ganzen Generation, um die Vorteile der Wiedervereinigung für den eigenen Bevölkerungsteil zu sehen. Insgesamt ergab sich über die verschiedenen Erhebungszeitpunkte hinweg und in den verschiedenen Geburtsjahrgängen das gleiche Bild wie zuvor: Je größer die zeitliche Distanz zur Wiedervereinigung und je jünger die Befragten, desto eher wurden die eigenen Vorteile in der Wiedervereinigung gesehen. Von einer zunehmenden Desillusionierung oder zunehmend enttäuschten Hoffnungen in den ersten Jahren nach der Vereinigung kann auf der Basis der vorliegen-den Daten nicht die Rede sein, vielmehr verlief der Trend seit 1989 durchweg positiv.
Nationalistische Deutung – Gefahr von Rechts
Dass trotzdem in den letzten Jahren verstärkt andere Gefahren für das demokratische Miteinander virulent werden – die hohe Zustimmung zu rechtsextremen Aussagen, Ausländerfeindlichkeit sowie nicht zuletzt das Erstarken politisch rechtsgerichteter Parteien und Bewegungen wie PEGIDA und der AfD; nicht nur, aber insbesondere auch in Ostdeutschland – spricht dafür, dass eine bessere Bewertung der Wiedervereinigung sowie ein geringeres Fremdheitsempfinden innerhalb Deutschlands natürlich nicht ausreicht, um eine demokratisch ausgerichtete soziale Kohäsion sicherzustellen. Wie die Studie von Faus und Storks (2019) zeigt, können bestehen-de Unterschiede zwischen Ost und West – oder gar die Diskriminierung Ostdeutscher (vgl. auch Foroutan et al. 2019) – zur Bildung einer (Teil-)Identität beitragen. Inwiefern solche Prozesse regionalistischer Identitätsbildung mit der Ausgrenzung anderer Gruppen einhergehen, sollte in weiterführenden Studien näher untersucht werden. Überdies ist es notwendig, auch die Möglichkeit einer nationalistischen Deutung der Wiedervereinigung nachzugehen. Diese vermindert zwar die Unterschiede zwischen Ost- und West, produziert aber unter Umständen neue Ausgrenzungen (beispielsweise gegenüber Migrant*innen).
In der vorliegenden Studie stellte der Bildungsabschluss einen maßgeblichen Faktor bei der Bewertung der Wiedervereinigung dar.
Im Falle der Bewertung der eigenen Vorteile durch die Wiedervereinigung konnte der Bildungsabschluss Unterschiede sogar besser erklären als die Zugehörigkeit zur jeweiligen Gruppe der Ost- beziehungsweise Westdeutschen.
Kein Sozialismus-Revival – aber Zustimmung zum Sozialismus “als Idee”
Durch bildungspolitische Arbeit mit einem Ziel der Angleichung, so kann geschlussfolgert werden, könnten bestehende Differenzen zwischen Ost und West weiter reduziert werden – indem ein Verständnis für den je anderen Teil Deutschlands, dessen spezifische Geschichte sowie individuelle Erfahrungshintergründe geschaffen wird.
Entgegen der Vorannahme kam es in Bezug auf die Befürwortung des Sozialismus als Idee zu keinem „Revival“ in den jüngeren Geburtsjahrgängen beziehungsweise bei den späteren Erhebungszeitpunkten. Die höchste Zustimmung ergab sich vielmehr unter den älteren Generationen der ostdeutschen Bevölkerung. Hier ist die Identifikation mit Teilen des gesellschaftlichen Systems der DDR noch am stärksten ausgeprägt. Über alle Messzeitpunkte und alle Geburtsjahrgänge hinweg ergab sich jedoch eine hohe Gesamtzustimmung zum Sozialismus als Idee. Dies sollte aber keineswegs nur als Gefahr für die Demokratie gewertet werden – vielmehr könnte insbesondere die ostdeutsche Bevölkerung mit ihrem realitätserprobten Umgang mit gesellschaftlichen Transformationsprozessen einen wichtigen Beitrag zur progressiven Gestaltung unseres demokratischen Miteinanders leisten. Dafür ist eine Anerkennung ihrer Erfahrungen im öffentlichen Diskurs jedoch zwingend notwendig.
Besonderheit: Binnenmigrant*inn*en als Wegweiser
Eine weitere Besonderheit der vorliegenden Studie stellte die Untersuchung der Binnenmigrant*innen dar, also derjenigen, die ihren Lebensmittelpunkt vom einen in den anderen Teil Deutschlands verlegt haben. In bisherigen Studien blieb dieser Gesichtspunkt meist unberücksichtigt, obwohl seit der Wiedervereinigung die Mobilität innerhalb Deutschlands, besonders von den ostdeutschen in die westdeutschen Bundesländer, für die soziale und politische Struktur nicht unbedeutend war. Die Aufschlüsselung dieser Kategorien ermöglicht die Berücksichtigung der Pluralität der Erfahrungen mit der deutschen Einheit sowie der Vielseitigkeit der Zusammensetzung der deutschen Gesellschaft seit der Vereinigung. Die Ergebnisse der Untersuchung der „Einheitsmentalität“ dieser besonderen Gruppe zeigt die Binnenmigrant*innen in einer Vorbildfunktion. Sie können ohne weiteres als die Vorreiter*innen der Vereinigung bezeichnet werden. Die Untersuchung des Fremdheitserlebens ergab dabei einen klaren „Wossi“-Effekt:
Während bei den beiden Gruppen ohne Binnenmigrationserfahrung jeder Fünfte angab, die Bewohner*innen des je anderen Teils Deutschlands als fremder zu erleben als die Bewohner*innen anderer Staaten, waren es im Fall der Binnenmigrierten nur knapp über zehn Prozent.
Insgesamt zeigt sich, dass der intensive Austausch mit der Bevölkerung des je anderen Teils, wie er durch die Verlegung des Lebensmittelpunktes ermöglicht wird, zu einem Zusammenwachsen führen und Fremdheitsgefühle reduzieren kann. Auch in Bezug auf die Bewertung der Wiedervereinigung gehen die Binnenmigrant*innen mit gutem Beispiel voran: Sie weisen ein wesentlich ausgewogeneres Bild in der Bewertung auf als die Gruppen, die im Osten bzw. Westen geblieben sind. Grundsätzlich gilt:
Die Vorteile der Wiedervereinigung für die Region des aktuellen Lebensmittelpunktes werden von allen untersuchten Gruppen, mit oder ohne Binnenmigrationserfahrung, geringer eingeschätzt als die Vorteile für die je andere Region. Bei den Binnenmigrant*innen ist diese Einschätzung jedoch signifikant positiver als bei den „Einheimischen“.
Die Analyse der Binnenmigrant*innen verdeutlicht, dass es sich bei der Frage nach der innerdeutschen Mobilität um ein vielschichtiges Phänomen handelt. Die individuellen Gründe, den Geburtsort zu verlassen, hängen dabei ebenso mit den untersuchten Einstellungsdimensionen zusammen wie der Zeitpunkt der Binnenmigration, das eigene Alter zum Zeitpunkt des Wohnortswechsels sowie der bisherigen Verweildauer im je anderen Teil Deutschlands. Obwohl über das Zusammenspiel der genannten Faktoren noch weitgehende Unklarheit herrscht, kann die Gruppe der Binnenmigrant*innen in gewisser Weise als Wegweiser der deutschen Einheit gesehen werden. Sie sehen die Vorteile für beide Teile Deutschlands und zeichnen sich durch ein weniger stark ausgeprägtes Fremdheitsempfinden aus. Dies spricht dafür, dass progressive Elemente der DDR-Vergangenheit und ihre nicht ausschließlich negativen Nachwirkungen in der heutigen Gesellschaft, beispielsweise in Bezug auf das Geschlechterrollenverständnis sowie die soziale Unterstützung, von den Binnenmigrant*innen wahrgenommen werden können, ohne dass das durch Repressionen und Unterdrückung entstandene Leid und die wirtschaftlichen Einbußen nivelliert werden, die sich auf die unterschiedlichen Lebensbedingungen in den alten und neuen Bundesländern auswirken. Die Binnenmigrant*innen zeichnen sich somit durch ein Verständnis bei-der Seiten der Medaille aus.
Pluralität der Erfahrungshintergründe
Alles in allem belegen die Ergebnisse die Wichtigkeit, spezifische Erfahrungen Einzelner oder ganzer Gruppen zu berücksichtigen, um einen demokratischen Zusammenhalt der Gesellschaft zu ermöglichen und zu fördern. Dies kann einerseits durch früh einsetzende Bildungsarbeit, andererseits auch durch die Förderung innerdeutschen Austausches im politischen wie privaten Raum eingeleitet werden. Dabei ist es nicht zielführend, ausschließlich von „den Ost-deutschen“ und „den Westdeutschen“ zu sprechen. Vielmehr kann nur die Sensibilisierung für die Pluralität der Erfahrungshintergründe der in Deutschland Lebenden die Basis für ein demokratisches Miteinander bilden. Dieses Ergebnis weist somit auch über die Frage nach den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Ost- und Westdeutschland 30 Jahre nach der Einheit hinaus: Ein innerdeutscher Austausch, der den spezifischen Erfahrungen und daraus resultierenden Stärken sozialer Minderheiten – seien es Ostdeutsche, Frauen*, Migrant*innen, Geflüchtete, oder andere soziale Gruppen – auf Augenhöhe begegnet sowie eine Verbesserung der Lebensbedingungen und insbesondere der Bildungschancen in strukturschwächeren Regionen, trägt dazu bei, den demokratischen Zusammenhalt in Deutschland zu stärken und die Mauer in den Köpfen Stück für Stück abzutragen.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus dem gleichnamigen Arbeitspapier der Otto-Brenner-Stiftung, Kapitel “Zusammenfassung der Ergebnisse und Fazit”. Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt. Den vollen Wortlaut finden Sie hier.

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