Das Problem ist nicht vorübergehend
Karneval fällt aus. Er hätte am 11.11. begonnen. Seien wir ehrlich: Weihnachten und Silvester fallen ebenfalls aus. Und die Verheissungen, dass irgendwann im neuen Jahr ein Impfstoff kommt, sind auch nicht viel seriöser als das, was Mr. Trump erzählt. Sie sind ein verzweifelter Versuch die genervte und ermüdende Bevölkerung bei der Disziplinstange zu halten. Die Infektionszahlen beweisen aber, dass das nicht funktioniert. Die Schwerpunkte sind so unterschiedliche Regionen wie Berlin-Neukölln (Wohnen und Leben eng an eng), Westniedersachsen (Massentierhaltung und -schlachterei) und seit einiger Zeit die NRW-Rhein-Ruhr-Region, die Pendler*innen-Region.
Jeder Appell im Stile von “Wir alle …” oder “Jede*r Einzelne …” sind verräterisch, sagen mehr über die ratlose Verzweiflung des*der so Sprechenden, und dokumentiert strategische Ratlosigkeit. Die Menschen sind verschieden, jede*r ist anders, und zwar auch sein Körper, seine Immunabwehr, sein Krankheitsverlauf. Aber viel mehr noch: sein Verstand, seine Intelligenz, seine Interessen und Neigungen. Es ist nicht möglich “alle” in einem Denken oder gar Handeln zu vereinigen – auch nicht mit einem Virus. Und das ist sogar gut so.
Was allenfalls gelingen kann, und das scheint bisher noch hierzulande der Fall zu sein, ist eine (grosse) Mehrheit für ein vernünftiges Handeln zu gewinnen. Wie bei einer Herdenimmunität kann das soziale Wirksamkeit entfalten, indem die vernünftige Mehrheit abweichende Minderheiten durch soziale Kontrolle diszipliniert. Das ist übrigens eine altbewährte Praxis unter Fußballultras, die damit in den letzten 25 Jahren wirksamer gegen Faschisten gearbeitet haben, als es Polizei und Rummenigges gekonnt hätten. Werner Bartens/SZ hat das Prinzip verstanden.
Wenn es nun also darum geht, die Mitwirkung der Menschen bei der sich erneut zuspitzenden Virusbekämpfung zu gewinnen, benötigen sie Belohnungsangebote, um sich der Disziplin freiwillig zu unterwerfen. Ich beharre darauf, dass solche Angebote Perspektiven für die Fortsetzung sozialen Zusammenlebens enthalten müssen. Denn ob es einen wirksame (!) Medikation 2021 oder 2025 gibt, weiss – machen wir uns doch endlich ehrlich! – keine*r.
Beispiele aus meiner persönlichen Praxis: an Weihnachten kommt die Familie zusammen. Alle verwandt. Aber 6 Personen aus vier (!) Haushalten, die sich auf drei regionale Standorte in NRW verteilen. Mindestens drei gehören wg. Alters zur “Risikogruppe”. Danach fahren alle nachhause – ich in der vollbesetzten Weihnachtsverkehrs-Bahn – und tragen das Virus durchs Land?
Freitagsmittags esse ich mit 5 Personen aus 4 Haushalten, in wechselnden Lokalen. Hinzu kommen im Wechsel 2-4 weitere Personen aus der Bürogemeinschaft eines Teilnehmenden. Auch hier gehören 3-4 zur “Risikogruppe”. Mit dem Bonner 7-Tage-Inzidenz-Wert über 50 ist dieser Lichtblick der Woche für alle Teilnehmenden seit gestern illegal.
So what?
Für diese und ähnlich gelagerte Beispiele sozialen Zusammenhalts muss es ein legalisiertes Angebot geben. Alle Teilnehmenden erklären sich zu einer “Infektionsgruppe”. Sie dokumentieren ihre Zusammen- und Zugehörigkeit, behalten diese Daten aber in ihrer Gewalt, und müssen sie erst im Infektionsfall eines*einer Teilnehmenden dem Gesundheitsamt offenlegen. Ich würde es nicht “Warn-App” sondern “Möglichmach-App” nennen. Die würde ich jederzeit freiwillig hochladen. Das wäre ein Weg für Sportvereine, Therapiegruppen, Sozialorganisationen u.v.a. Er ist gesellschaftlich notwendig, um insbesondere die “Risikogruppen”-Mitglieder an einem Ableben ganz ohne Virus zu hindern. Vereinsamung macht nämlich auch tot.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net