Eine Stunksitzung wie der WDR
Was für ein verkorkster Start in den Tag. Mit einem Surrogat von TV-Stunksitzung ins Bett gegangen. Im tiefgekühlten Schlafzimmer aufgewacht. Im Radio Laberüberschuss: Gesundbeterei des Distanzgebots. Auf den Onlineseiten nur schlechte Nachrichten. Wer den “Weltpokal” gewonnen hat; warum Aussenpolitik immer dümmer wird; überall nervtötende Popups, im Posteingang eine berechtigte Bürgerbeschwerde aus Beuel, obwohl ich Rentner bin, fern meines früheren Schreibtisches und Diensttelefons, die Stadt meldet keine Coronadaten, und mein Stimmungsaufheller Küppi war weit nach 10 immer noch nicht mit seinem Freitagsauftritt fertig (und dann darf auch noch Somuncu mitspielen, der über seine eigenen Scherze lachen muss). Wie soll das ein guter Tag werden?
Alles fing mit der Stunksitzung an, bzw. dem TV-Rest, der davon übrig geblieben ist. Mir kamen die Tränen, vor allem bei recycleten Archivaufnahmen mit Publikum. Es war immer so: die TV-Übertragung an sich war schon nur ein Abklatsch des realen Infernos im Saal. In den wenigen Jahren, in denen ich Karten für einen Vorstellungstermin nach der TV-Aufzeichnung hatte, schaute ich aus Neugier trotzdem vorher in die Glotze und dachte immer: ouh, dieses Jahr sind sie aber nicht so gut wie sonst. Um nach dem Besuch der realen Vorstellung eines besseren belehrt zu werden. Es ist der gleiche Effekt, den derzeit die Kinolobby rauf und runter betet.

Es sind die Menschen, das Gemeinschaftserlebnis, die lieben Freund*inn*en, mit denen ich zusammen hingehe, und schon weit vorher und weit nachher weiterfeiere.

Ultimative Macht: der Besitz von 100 Eintrttskarten

Die grösste Menge Bargeld, die ich jemals in meinem Leben bei mir hatte, verbindet sich mit der Stunksitzung. Die Grüne Landtagsfraktion bekam jedes Jahr eine Ration von 100 Eintrittskarten – nicht geschenkt, zum Verkauf zugeteilt. In einem Jahr war ich mit der Organisation beauftragt. Geld einsammeln, im Gegenwert eines kleinen Bankraubs, im vollbesetzten Regionalexpress von Düsseldorf nach Köln zu Didi Jünemanns Zuhause fahren. Er zählt das Geld; ich zähle die Karten. Mit den 100 Karten im Gegenwert eines kleinen Juwelenraubs wieder im vollbesetzten Regionalexpress nach Düsseldorf – und einmal die Macht geniessen, die Karten an strahlend-dankbare Gesichter grosszügig zu verteilen, als wäre mann Marlon Brando persönlich.

Die Stunksitzung hat ein strukturelles Problem, das sie nicht geheilt hat, sondern sich strategisch lieber weise daran anpasste. Die Darsteller*innen fingen blutjung und dilettantisch in den 80ern an. Ihr Publikum war wie sie, mann und frau war zusammen in einem viel zu engen, viel zu kleinen Saal. In meiner Rundfunkratszeit 1997-2003 habe ich mir eine VHS-Cassette von so einer 80er-Jahre-Vorstellung anfertigen lassen – ein kulturhistorisch-kölsches Juwel!

Zu den Ritualen in den 90ern gehörte das warten in der Kälte auf den Einlass zum Saal. Das war sehr anstrengend, aber selbst schon eine Party. Nach dem Einlass das drängende Hineinrennen in den Saal, um die besten Plätze für die eigenen Freund*inn*e*n zu sichern. Die Wintergarderobe war das Äquivalent zum Handtuch am Hotelpool – der anstrengendste Teil: das Plätzefreihalten für die Zuspätkommer*innen; dann das erleichterte Organisieren von Kölsch und Mettbrötchen, wenn endlich alle da waren, das Freundschaftschliessen mit den unbekannten netten Sitznachbar*inne*n, selten mal unangenehme vorzeitig betrunkene Zeitgenoss*inne*n, eine verschwindende und ignorierbare Minderheit.

Ja, und dann halt die Eröffnung des Infernos mit Köbes Underground. Unbestreitbar: mit den Jahren und dem unvergleichlichen ökonomischen Wachstum zur grössten Veranstaltung des Kölner Fastelovend verschwand der Dilettantismus und gewann die Professionalität. Wobei die bestaunenswerte Akrobatik mit den Jahren wieder vorsichtig abgebaut werden musste.

Das Alter ist da

Wie beim Publikum. Irgendwann, ich habe das Jahr vergessen, gab es plötzlich numerierte Tische und Plätze, das stundenlange warten vor dem Einlass war abgeschafft, es reichte völlig, eine halbe Stunde vor Vorstellungsbeginn einzutreffen. Ich habe noch niemand gefunden, die*der das kritisiert hat. Unbarmherzig wurde das Publikum auf diese Weise aufgeklärt: jetzt bist du alt! Und mann achtet plötzlich auf die Menge des konsumierten Alkohols. “Kölsch tut nix, ett will nur spielen” – es stimmt nicht mehr. Das ist brutal.

Ich mag die Biggi Wanninger sehr (am liebsten wenn sie zusammen mit Harfen-Heini an Trude Herr im Himmel erinnert). Sie ist ein Moderations-As, weil sie den Saal sowohl heissmachen als auch runterkühlen kann. Mann nennt es Intelligenz. Aber ohne Saal? Es erinnerte mich unbarmherzig daran, dass ich WDR-Fernsehen glotze. Gibt es in diesen Zeiten Schlimmeres?

Klar: die Produktionsverträge mit dem Sender retten der Stunksitzung finanziell mglw. das Leben. Ohne würde sie abkratzen, wie es die ganze unabhängige Kulturszene gerade tut. Und das will ja keine*r. Aber auf die dreistündige Langversion Samstagnacht, die natürlich als Mediathekangebot auch zu Wachzeiten genossen werden kann, verzichte ich freiwillig. Es würde mich zu traurig machen.

Es ist Zeit fürs Mittagessen – einen Höhepunkt des Tages. Habe mir gestern einen Bio-Sangiovese aus dem Libanon besorgt – mann gönnt sich ja sonst nichts.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net