Der mutmassliche Selbstmord-Tod eines “Top-Models” hat eine unschöne Verbindung in die kleine Bonner Medienwelt
Wenn Sie beim Bonner General-Anzeiger arbeiten, stehen Sie unter Stress und Zeitdruck. Wenn Sie wissen wollen, worauf das hier hinausläuft, suchmaschinen Sie nach Rainer Beaujean. Ich hole hier nämlich weit aus. Mir hat das Thema heute nacht den Schlaf geraubt – ich habe vor dem Einschlafen darüber gegrübelt, und nach dem Wachwerden erneut.
Der meistgelesene Onlinetext der FAZ ist heute kein Unternehmensführerporträt und keine Börsenmeldung, sondern einer, der unprominent hinten im “Gesellschaft”-Ressort abgelagert ist: es geht um den Tod von Katarzyna Lenhardt. Die junge Frau war bis vor einigen Tagen mit dem deutschen Fussballnationalspieler Jerome Boateng liiert, der das epochemachende Fussballturnier in Katar vorzeitig verlassen hat.
Die spezifische Problematik des Beziehungslebens deutscher Fussballer soll hier nicht mein Thema sein. Ob heteronormativ oder Scheinehe für Schwule: oft handelt es sich um arrangierte eheähnliche Beziehungen zum “beiderseitigen Vorteil”, an denen ganze spezialisierte Agenturen ihr Geschäftsmodell aufbauen. Der Fussballer demonstriert öffentlich ein “Privatleben”; die Spielerfrau gewinnt an Prominenz und Marktwert in ihrem eigenen Business (Arie van Lent, ehemals Gladbach-Mittelstürmer 1999-2004, heute Trainer: “Ich habe keine Spielerfrau, ich habe eine richtige Frau.”) Nein hier geht es mir um etwas anderes.
Pandemie Essstörungen
Nein, die Modelbranche ist nicht “schuld” daran. Sie surft nur darauf. Das Problem ist grösser.
Ich erfuhr davon in den 80er Jahren. Eine gute Freundin, die es bis heute geblieben ist, offenbARTE mir ihren eigenen Fall. Sie war vom Land in die grosse Stadt gezogen, folgte nicht den vorgezeichneten Wegen ihrer Familientradition, engagierte sich politisch und systemkritisch. Der Druck war gross, sich zu beweisen, Leistung zu zeigen, sich Respekt zu erkämpfen. Die Essstörung ist der Versuch, über all das, und vor allem sich selbst, die Kontrolle zu behalten bzw. erst zu erlangen.
In den 90er Jahren begegnete mir ein weiterer Fall bei den Grünen. Sehr gute Freundin, ebenfalls bis heute geblieben, die seinerzeit in der Blüte ihrer Lebensjahre “jeden Mann haben konnte”, und sich viele davon nahm (Selbsteinschätzung: “Ich glaube, ich bin Nymphomanin.”) Diese Lady ist heute grossverdienende Lobbyistin, die Mistress in einem Betrieb mit mehreren Dutzend blutjungen karrieregeilen Lobbyist*inn*en, die als Tochterunternehmen eines grossen multinationalen Beratungsunternehmens 150% Leistung bringen. Sie hat lebensbedrohliche Urlaube in allen Hochgebirgen dieses Planeten absolviert, und beweist sich bis heute täglich, dass sie jederzeit an ihre Grenzen gehen kann, und sich darin von niemand übertreffen lässt. Eine Philosophie, wie sie heute alltäglich und weltweit den professionellen Leistungssport kennzeichnet, mit dessen Funktionären die hier behandelte Freundin im übrigen ebenfalls bestens bekannt war. Ob sie von den Esssstörugen, die sie mir in jungen Jahren offenbARTE, “geheilt” ist, weiss ich nicht.
Ich entwickelte durch die nahe Freundschaft mit diesen Frauen einen beängstigend zutreffenden Blick auf Erkrankungsfälle in meiner sozialen Nahumgebung. Bei Freundinnen, denen ich nah genug war, um die direkte Ansprache auf eine Essstörung zu wagen, erzielte ich eine 100%-Trefferquote, die mich sehr beunruhigte. Für Männer mag das als Beweis dienen: es ist erlernbar, auch für Dich. Und ich bin bis heute voller Respekt und Bewunderung für meine Lehrerinnen.
In der Wirkung handelt es sich für sie um eine Einbusse an Lebensfreude und -genuss, die nicht weit entfernt von ihrer physischen Foltervariante Genitalverstümmelung ist, aber weit weniger politisch diskutiert wird. Bei Freundinnen, die ich liebe, lässt mir das keine Ruhe. Darum habe ich das vor vielen Jahren in einer Recherchereportage für den Freitag verarbeitet.
Seit der damaligen Veröffentlichung (2007) hat sich manches verbessert. Vor allem ist es vermehrt Gegenstand öffentlicher Erörterungen. Die Opfer bekommen eine Chance auf die Wahrnehmung, dass sie damit nicht allein sind, ein erster Schritt, um überhaupt Solidarität erarbeiten und erkämpfen zu können.
Es handelt sich im Kern um eine psychologische Suchterkrankung mit der Unsicherheit, ob Betroffene jemals davon “geheilt” sein können, ähnlich Alkoholiker*inne*n oder anderen Drogenabhängigen.
Der neoliberale Spätkapitalismus treibt die Individualisierung von Erfolg und Misserfolg und die Zerschlagung solidarischer Kollektive voran. Er existiert auf dieser Basis der Spaltung und Trennung in Erfolgreiche und Überflüssige. Wer “es” geschafft hat, lebt in dem Bewusstsein und Risiko, dass das nicht von Dauer ist und jederzeit kippen kann – in Jerome Boatengs Karrierephase spitzt sich das gegenwärtig zu. Und hat es bei Frau Lenhardt als alleinerziehende junge Mutter gewiss auch getan. Eine gute Freundin schrieb mir gestern dazu, dass daran “sehr viele viel verdienen”. Wie wahr.
Wer bereichert sich an diesem Elend?
Sicher, die Modelbranche, das Fussballbusiness, die Boulevard- und die asozialen Medien. Viele sind beim Fussballkonzern im süddeutschen Raum eingebettet, und halten sich (noch) zurück. In den asozialen Medien wird dagegen seit gestern, so wurde mir berichtet, unbegrenzt Jauche über die Sache gekübelt.
Die, die daran verdienen, sind fette, fein verästelte Konzerne, die das Elend gezielt kultivieren – manche nennen das beschönigend ein ganzes “Öko-System”. Im Falle von Frau Lenhardts kurzer Karriere war das der Medienkonzern Pro7Sat1, der aus der einstigen Konkursmasse des Kirch-Konzerns (illegale Parteispenden an Helmut Kohl) hervorgegangen ist, und nach einer Phase des Hedgefond-Besitzes nun in den Händen der Bunga-Bunga-Experten und bei Bedarf jederzeit faschismusnahen Familie Berlusconi und des tschechischen Oligarchen Daniel Křetínský ist, der sich nebenbei an den Braunkohlesubventionen in der Lausitz bereichert, ein Klimakiller aus dem Bilderbuch.
Dieser Medienkonzern hat zu Zwecken der Steuervermeidung sowie einer effizienten Prekarisierung und tarifflüchtigen Ausbeutung seiner Mitarbeiter*innen einen regelrechten Kosmos aufgebaut, u.a. um die scheinbar von Lady Klum dressierten “next Topmodels”. Er macht sie, dem Metzger Tönnies sehr ähnlich, in industriellem Massstab zu Wurst. Berufsfreiheit, Gewerbefreiheit, Vertragsfreiheit gab und gibt es für die Mädchen, jungen Frauen sowie deren ehrgeizige Erziehungsberechtigte nicht, ob mit oder ohne Coronapandemie. Sie sind leicht verführbare Opfer mit der ungewissen Perspektive reich und berühmt werden zu können. Es gibt welche, die “es” schaffen. Nicht alle lassen sich zerbrechen. Doch wie im Fussball ist der Erfolg weniger Einzelner für nichts ein Beweis. Die junge Frau Lenhardt ist ein katastrophaler demonstrativer Gegenbeweis.
Was hat das mit dem Bonner General-Anzeiger zu tun?
Der Kapitän des Pro7Sat1-Tankers der Reedereien Berlusconi und Křetínský ist Rainer Beaujean. Als ehemaliger Telekom-Funktionär ist er ein Eingeborener des bönnsch-rheinischen Grosskapitalismus, und ausserdem ein Experte für zeitgemässe Datendealerei. Er ist verantwortlich für das, was auf seinem Schiff geschieht und steuert die Entscheidungsprozesse und Geschäftsmodelle. “Seit 31. März 2020 ist Beaujean zudem Mitglied des Aufsichtsrats der RBVG (Rheinisch-Bergische Verlagsgesellschaft mbH) in Düsseldorf sowie in Personalunion Aufsichtsratsmitglied der Tochtergesellschaft RPG (Rheinische Post Verlagsgesellschaft mbH).” Das ist seit noch nicht so langer Zeit die Konzernmutter des Bonner General-Anzeigers. Die meint also, dass der Herr des Geschäftsmodells, unter dessen Räder die verstorbene Frau Lenhardt geraten ist, besonders gut zu ihr passt.
Die Verlagsherren sind mit Kardinal Woelki gut bekannt. Die Sache sollte sie nachdenklich machen: was ist verantwortliches Geschäftemachen? Was ist verantwortliches Kommunizieren?
Alternatives unsachlich-ekliges Ende:
Heute Nacht hatte ich die Fantasie, dass die Verantwortlichen an der Kotze ihrer essgestörten Opfer ersticken mögen. Fantasie, kein Aufruf.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net