Die Pandemie zeigt viele Nebenwirkungen. Zu den auffälligsten zählt die Sorge, die viele Politiker zum Wohl der Kinder äußern. Sie müssten aus dem Lockdown zurück in die Schule, damit ihre Zukunftschancen und ihre soziale Entwicklung nicht Schaden nehmen, heißt es immer wieder. Diese Besorgnis ist erstaunlich.

Als Vorwand benutzt

Selbstverständlich ist sie nicht, wenn man bedenkt, dass in dieser Republik viele Kinder Tag für Tag Opfer von Gewalt und Missbrauch werden und sogar die Verbrechen von Pädophilen, die im Dienst der katholischen Kirche stehen, von diesem Arbeitgeber offenbar immer noch vertuscht werden.

So erfreulich es ist, dass nun viel von Kindern die Rede ist: Mancher, der ihr Wohl beschwört, erweckt den Eindruck, er benutze die prekäre Lage der Kinder in der Pandemie als Vorwand, damit der Lockdown für die Eltern und deren Arbeitgeber gelockert wird. Sind die Kinder in der Schule, können die Eltern zur Arbeit.
Seit Jahrzehnten bekannt
Ob es wirklich dem Wohl der Kinder dient, sie früh dem Kontakt mit dem Virus auszusetzen, stößt auf begründete Zweifel. Sie betrachten die rasche Öffnung der Schulen für das Wohl der Kinder und Familien eher als schädlich. Vor diesem Hintergrund erscheint die heute oft geäußerte Sorge um die Kinder scheinheilig.

Schon vor der Pandemie spielte das Wohl der Kinder nur eine Nebenrolle. Wie sonst wäre zu verstehen, dass viele Schulen baulich, technisch und konzeptionell miserabel dastehen? Dass Kinder von Zuwanderern und sozial Schwachen benachteiligt sind, ist seit Jahrzehnten bekannt. Geändert hat sich daran nicht viel.
Der Zuständigkeit nicht gewachsen
Den jämmerlichen Zustand der Schulen haben die 16 Bundesländer zu verantworten. Sie verteidigen diese Zuständigkeit, zeigen sich ihr jedoch nicht gewachsen, weder finanziell noch konzeptionell.

Jedes der 16 Länder praktiziert sein eigenes Schulsystem. Acht sind Zwergländer mit weniger als drei Millionen Einwohnern. Wechseln die Eltern das Bundesland, kann es den Kindern passieren, dass sie am neuen Wohnort ihren Altersgenossen hinterherhinken und ein Schuljahr zurückgestuft werden.

Einfache Texte verstehen

Viele Schulen sind für Ganztagsunterricht ungeeignet. In vielen Schulen war die letzte technische Innovation nach dem Einbau von Stromleitungen der Umbau der Heizungen von Koks auf Gas und Öl.

Wie viele Schüler verlassen in jedem Jahr die Schulen als Analphabeten? Wie viele Schüler sind nach der Schulzeit nicht in der Lage, einfache kurze Texte zu verstehen? Wie viele Schüler kommen, wenn sie die Schule hinter sich haben, mit den Grundrechenarten nicht klar?

Den Politikern gedient

Verantwortung für die Schulen tragen die 16 Ministerpräsidenten, die 16 Kultusminister, deren umfangreiche Schulverwaltungen und die Kultusministerkonferenz. Dort sitzen Vertreter von fünf Parteien, deren schulpolitische Konzepte weit auseinandergehen.

Die Konferenz der Schulminister ist berüchtigt für endlose Debatten, verschobene Entscheidungen und faule Kompromisse. Wie soll ein System, das mehr die Existenz seiner politischen und administrativen Organisatoren sichert als den Bedürfnissen seiner Nutzer dient, etwas Zukunftsweisendes hervorbringen?
Den Fortschritt gebremst
Flickwerk bremst in der Schulpolitik den Fortschritt. Die Parteien können sich ihre Ignoranz in der Schulpolitik leisten, weil die Eltern die Mängel hinnehmen, solange Ruhe an der Schulfront herrscht. Nun sind die Defizite dank der Pandemie für die Verantwortlichen zur Blamage geworden.

Die Missstände an den Schulen schaden der Republik. Werden sie nicht abgestellt, werden sie wachsen. Darf man damit rechnen, dass sie abgestellt werden? Politikverächter meinen: Der Zustand der Schulen spiegele den Zustand der Politiker wider, die für die Schulen verantwortlich sind. Unter diesem Gesichtspunkt scheint es ziemlich unwahrscheinlich, dass die Schulen auf die Höhe der Zeit gebracht werden.

Über Ulrich Horn (Gastautor):

Begonnen hat Ulrich Horn in den 70er Jahren als freier Mitarbeiter in verschiedenen Lokalredaktionen des Ruhrgebiets. Von 1989 bis 2003 war er als Landeskorrespondent der WAZ in Düsseldorf. Bis 2008 war er dann als politischer Reporter in der Essener WAZ-Zentralredaktion tätig. Dort hat er schon in den 80er Jahren als Redakteur für Innenpolitik gearbeitet. 2009 ist er aus gesundheitlichen Gründen ausgeschieden. Seine Beiträge im Extradienst sind Crossposts aus seinem Blog "Post von Horn". Wir bedanken uns für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe an dieser Stelle.