mit Update abends
Soziale Distanz und Selbstreferenzialität als Pandemie unserer Zeit
Die Sitzungsgeilheit meiner früheren Arbeitgeberin, der Grünen Ratsfraktion, war u.a. dadurch zu erklären, dass es für die Amateurpolitiker*innen ein karges Sitzungsgeld gab. Für jede Sitzung (es gab eine jährliche Deckelung, die aber nur die “Profis” übertrafen). Ich lästerte seinerzeit häufiger: “Sollen wir nicht zusammenziehen?” So stelle ich mir mittlerweile das Geschehen unter denen vor, die abseits der von der Verfassung vorgesehenen Organe unsere Republik durch die Pandemie manövrieren: die Ähnlichkeiten mit einer krisengeschüttelten Wohngemeinschaft sind unverkennbar.
Das Hauptproblem eines solchen krisengeschüttelten Mikrokosmos ist der Verlust der Aussenkontakte, der Wahrnehmung der Wirklichkeit da draussen. Die CDU als einstige Stütze des deutschen korporatistischen Gesellschafts- und Politiksystems ahnt, dass “es” zuende geht. Die letzten verbliebenen Wähler*innen flüchten. Nun auch noch die, denen Ostern der höchste Feiertag ist? Die sollen zuhausebleiben, der Profisport wurde aber wieder vergessen? Und soll in den nächsten Tagen das Virus u.a. aus Island, Nordmazedonien und Rumänien holen, bzw. dorthin weiterverbreiten? Und die Pflichten von gewählten Politiker*inne*n, sich Fachwissen zu verschaffen, die Versorgung der Menschen mit Impfung, Testkapazitäten und technischen Anlagen für Schulen u.a. öffentliche Einrichtungen, der Schutz der systemrelevant Schuftenden, und die Organisation einer in Pandemien notwendigen internationalen Kooperation über System- und Ideologiegrenzen hinweg – alles seit über einem Jahr “vergessen”? Das kann sich kein*e Satiriker*in mehr ausdenken.
Das Kommunikationsproblem sitzt tief in der Gesellschaft
Es sind keineswegs nur die doofen Politiker*innen. Sicher, unter der Selbstreferenzialität in ihren Sitzungsbunkern leiden sie besonders. Das ist ihnen täglich live in ihren Gesichtern abzulesen. Sie sind damit aber leider würdige Repräsentant*inn*en der gesellschaftlichen Gegenwart. Das Social Distancing begann schon vor der Pandemie mit der monopolistischen Etablierung asozialer Medien. Sie ersetzen zunehmend reale Kommunikation zwischen echten Menschen durch ihre Simulation und Inszenierung. Selbstinszenierung ist seit langem ein kapitalistischer Imperativ – und nun kann das jede*r aus dem eigenen Kinderzimmer.
Im NDR killen sie gegenseitig ihre Berufsbiografie
Ein unschönes Beispiel dafür ist ein kapitaler Unfall, der sich im NDR ereignet hat, und gestern öffentlich ausgebreitet wurde. Für was-mit-Medien-Leute: der “Fall Relotius”, den der Spiegel mehr inszeniert als aufgearbeitet hat, wird wiederholt in einer öffentlichen Sendeanstalt, im Besitz der Bürger*innen von vier Bundesländern (MeckPom, Schl.-H., Hamburg, Niedersachsen).
Schon lange rätsele ich über die dort herrschende Unternehmenskultur, wo nichtssagende Typen wie Pilawa, Bommes oder Baumgarten alles wegmoderieren, was nicht bei 3 auf den Bäumen ist, gecastet nach Kameragenität, und alles Anstoss- also zum mitdenken -erregende abdressiert. Andererseits: Büttenwarder, Ina Müller – nicht alles ist schlecht und muss schlecht bleiben.
Es kann noch viel schlimmer werden. In der Redaktion “Strg_F” wird eine Philosophie von der Spitze aus gepflegt, die den Rechtsstaat unterpflügen will, wenn es für das eigene Fortkommen nur geil genug ist. Dem ist nun eine junge Filmmacherin zum Opfer gefallen, die zu opfern keine Führungskraft ein Fingerschnipsen kostet.
Ich weiss nicht, ob ihr relotiusartig preisbehangener Film was getaugt hat. Es gibt Zweifel. Ich habe ihn nicht gesehen. Mir reicht völlig, die offiziell abgelederte Kommunikation des mitverantwortlichen Senders, der es ganz ähnlich wie bei Relotius der Spiegel, nicht gewesen sein will, und eine junge, unerfahrene (vielleicht auch zu doofe) Frau dafür ans Kreuz nagelt. Da wird mir übel.
Es wäre gar nicht schwer, und war, als wäre es gestern gewesen, noch ganz einfach. MDR-Rundfunkratskollege Heiko Hilker kommentiert es so: “Es ist die Verantwortung einer Redaktion kenntlich zu machen, ob es sich um eine Inszenierung handelt. Die Autorin hat Jahre recherchiert und ihre Recherche künstlerisch umgesetzt. Das ist im künstlerischen Dokumentarfilm international eine gängige Praxis. Als Hybridform entstand im NDR z.B. der Film ‘Aghet’ von Eric Friedler. Oder auch ‘Böse Onkel’ von Sophie Kill. Diese Filme haben das Verfahren für den Zuschauer offengelegt und das dokumentarische Verfahren transparent gemacht.”
Gespenstisch dagegen, wenn der DLF seine eigenen redaktionellen Beiträge zu dem Film selbstzensierend und Nachvollziehbarkeit verhindernd aus seiner Onlinepräsenz entfernt, mit der Aussage: “Das ursprünglich hier im Text und Audio vorgestellte Thema hat sich mit dem Dokumentarfilm ‘Lovemobil’ befasst. Der NDR ist Mitproduzent der Dokumentation und hat nun Hinweise, dass über weite Strecken inszenierte und nicht dokumentarische Szenen gezeigt werden. Wir prüfen diese Hinweise, arbeiten gerade an der Klärung und publizieren währenddessen die Inhalte nicht mehr. Die Stellungnahme des NDR zu der Dokumentation finden sie hier.” Und damit geradewegs zu dem Dabinichnichtdabeigewesen des NDR führt. In dessen Produktionsstudios das Einfügen von “nachgestellte Szene” ins Bild nur ein leichtes Zittern des Zeigefingers erfordert.
Vielleicht hätten 2-3 echte Menschen dafür nur 2-3 Minuten miteinander sprechen müssen. Aber dann wäre ja die ganze Windmacherei ersatzlos ausgefallen.
Update abends: ein ähnlich unschönes Beispiel kommentiert Matthias Dell/DLF (Audio 5 min), ein Beitrag übrigens, den es sich zu Hören statt zu Lesen lohnt. Auch Extradienst-Autor Andreas Zumach war schon mal Opfer der beim SZ-Feuilleton gepflegten Arbeitsweise. Ich habe nie eine Journalisten-Ausbildung genossen – ist Telefonrecherche für Feuilletonist*inn*en eigentlich verboten? In Dells Beispiel hätten 5 Minuten Telefonat viel Ärger, Aufregung und Zeilen eingespart. Aber wer will das?
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