von Informationsstelle Lateinamerika
Nichts liegt im Moment ferner, als über euphorische Tanzpartys nachzudenken, auf denen sich Tausende von Menschen dröhnenden Bässen hingeben, wo sie schwitzen, sich aneinander reiben, in waghalsigen Choreographien zu überbieten versuchen, flirten, sich berauschen und den Alltag ausschalten. Allein die Vorstellung davon ist nach über einem Jahr Pandemie Eskapismus pur. Aber wir haben die Challenge angenommen, einen Schwerpunkt über DIE brasilianische Partykultur schlechthin zu erstellen: Baile Funk. Oder einfach nur Funk, wie der Stil in seiner Heimat genannt wird. Oder Funk Carioca, denn ursprünglich ist die Musik und mit ihr eine ganze Kultur – Ästhetik, Mode, Tanzschritte – in den 1980er Jahren in Rio de Janeiro entstanden. Gut 40 Jahre später ist Funk eine feste Größe in Brasilien, kultur-industrielle Akteure rund um das Genre generieren hohe Umsätze. Wer hätte gedacht, dass dieser Sound, im Elend der Peripherie entstanden und anfangs ganz ohne Musikindustrie im Rücken, einmal so weit käme?

Heute werden in ganz Brasilien Funk-Songs produziert, der Sound ist allgegenwärtig: am Strand, in Werbespots, im Fernsehen, Radio und Internet. Gerade YouTube hat dem Genre einen wahnsinnigen Popularitäts- und Innovationsschub verliehen. Mittlerweile gibt es Funk-Tracks mit über einer Milliarde Klicks.

„Als ich Baile Funk das erste Mal hörte, klang das für mich wie ein lustiger, basslastiger Samba-Remix alter Kraftwerk-Tracks“, erinnert sich der Berliner DJ und Producer Daniel Haaksman. Der Sound haute ihn dermaßen aus den Schuhen, dass er nach Brasilien reiste, um dem Phänomen auf den Grund zu gehen. Das Ergebnis seiner Entdeckungstour, der erste internationale Sampler mit Baile-Funk-Tracks, trug entscheidend dazu bei, Baile Funk außerhalb Brasiliens bekannt zu machen. Gut, dass Haaksman damals nicht verstand, worum es in den meisten Songs ging. Im Nachhinein gibt er eine Menge „kulturelle Missverständnisse“ zu, die jedoch produktiv genutzt worden seien.

Anlass für Vorbehalte gegenüber Funk gibt es zuhauf. Viele Songtexte spiegeln unverblümt die harte – und auch klischeebehaftete – Realität in der Favela wider: Drogenkriminalität und Polizeigewalt, sexistische Klischees, toxische, materialistische Paarbeziehungen, Objektifizierung von Frauen, Prahlerei mit Luxusgütern. Und in vielen Funk-Videoclips kann man sich vor den allgegenwärtigen supergeilen Partys mit ausnahmslos schönen Menschen am Swimmingpool kaum retten. Wer genauer hinschaut und hinhört, sieht jedoch die Brüche, die Ironie und die Doppeldeutigkeiten, derer sich viele Funkeirxs bedienen. Und mittlerweile auch ganz schön viele stolz präsentierte Körper, die nicht den gängigen Schönheitsidealen entsprechen.

Lange Jahre wurde auf Funk herabgesehen. Im zutiefst rassistischen und klassistischen Brasilien konnte eine Kultur, die aus der Favela kommt und überwiegend von Schwarzen produziert und konsumiert wird, nicht ernstgenommen, geschweige denn gewürdigt werden. Medien verhöhnten Funk-Sängerinnen als „stillos“, MCs und DJs sind mit Drogengangs in einen Sack gesteckt worden, mit der Folge, dass einige von ihnen sogar im Gefängnis landeten. Egal, welcher gesellschaftliche Missstand – Teenagerschwangerschaften, sexuell übertragbare Krankheiten oder Drogenkonsum – schuld daran sollte immer wieder Baile Funk sein. Dazu sagt MC Carol, eine der Stars des Genres: „Das größte Verbrechen, das Funk begeht, ist es, Schwarzen zu Reichtum zu verhelfen. Drogen sind doch sowieso überall, bei Rock in Rio, auf dem Lollapalooza Festival, in Nachtclubs.“

Gegen alle Kritik und Widerstände hat es Funk geschafft, auch von breiteren Kreisen anerkannt zu werden, unter anderem durch das Gesetz „Funk é Cultura“ aus dem Jahr 2008. Im Jahr 2021 hat die Pandemie Brasilien fest im Griff und auch die Kulturschaffenden dort in die Knie gezwungen. Wer nicht zu den ganz Großen gehört, befindet sich im Standby-Modus und träumt von den nächsten großen Funk-Partys in der Zukunft. Wir gucken uns bis dahin die Funk-Netflix-Serie „Sintonia“ an, ziehen uns Tausende von Funk-Videoclips auf KondZilla rein, dem größten Musikchannel Lateinamerikas, und teilen mit den Musikverrückten dieser Welt unseren ila-Schwerpunkt zu Baile Funk. Und auch wem die Musik wenig sagt, der/die erfährt in dieser ila vieles über die brasilianische Gesellschaft und über eine künstlerische Ausdrucksform, die in den Favelas von Rio geboren wurde und mittlerweile quer durch alle Klassen, Generationen und Länder dröhnt.
Dieser Beitrag ist die Übernahme des Editorials aus ila 445 Mai 2021, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. In der nächsten Woche folgen zwei weitere Textübernahmen zum “Baile Funk”.

Über Informationsstelle Lateinamerika (ILA):

Die Informationsstelle Lateinamerika e. V. (ila) ist ein gemeinnütziger Verein mit Sitz im Oscar-Romero-Haus in Bonn. Das Ziel des Vereins ist die Veröffentlichung kritischer und unabhängiger Informationen aus Lateinamerika. Der Schwerpunkt liegt auf Nachrichten und Hintergrundinformationen aus basisdemokratischer Perspektive. Die Informationsstelle Lateinamerika begreift sich als Teil der politischen Linken und engagiert sich in übergreifenden politischen Bündnissen wie der Friedens- und Antikriegsbewegung oder Attac. Der Verein besteht seit 1975 und gibt die gleichnamige Zeitschrift ila heraus. Alle Beiträge im Extradienst sind Übernahmen mit freundlicher Genehmigung.