Ich bin seit 1986 Mitglied der Grünen, habe die Turbulenzen der ersten Bundestagsfraktionen von 1983 an als Mitarbeiter nur gesund überlebt, weil mich eine solide politische Sozialisation bei den Jungdemokraten, in der FDP und in der Friedensbewegung gelehrt hat, mit berstenden Persönlichkeiten und divergierendsten politischen Strömungen rational umzugehen. Ich habe in den Augen mancher “Karriere” gemacht, in NRW als Fraktionsvorsitzender die erste Koalition mit der SPD mitregiert und bin als alter Linksliberaler von den NRW-Realos 2000 “entsorgt” worden, seither als Unternehmer und Publizist erfolgreich. Ich bin immer noch in dieser Partei, weil sie mir im Vergleich zu allen anderen das kleinste Übel erscheint und in Bürgerrechtsfragen sogar manchmal auf mich hört. Aber eine Einladung meines KV Bonn zur Mitgliederversammlung dieser Woche hat mich doch sehr nachdenklich gemacht, ob Personen und Posten bei den Grünen nun wichtiger werden, als politische Inhalte.

Wie sollen Mitglieder über die politische Lage im Dezember urteilen können?

Könnte es sein, dass manchen meiner Parteifreund*inn*e*n vielleicht aus Besoffenheit über die derzeitigen Wahlprognosen die politische Sensibilität verloren zu gehen droht? Wie komme ich auf die Idee? Gestern erreichte mich eine Einladung des Kreisvorstandes der Grünen Bonn für eine virtuelle Mitgliederversammlung am 1.Juni 2021. Die nächste Landtagswahl findet am 15. Mai 2022 statt. Am 1. Juni 2021 sollen nach der Tagesordnung “Voten” für mögliche Kandidatinnen und Kandidaten der Grünen für die Landesreserveliste zur Landtagswahl 2022 vergeben werden. Diese “Voten” sind ungeheuer wichtig, weil Kandidat*inn*en, die nicht spätestens im dritten Satz der Vorstellungsrede sagen können “..und habe ich das Votum meines Kreisverbandes” werden schief angesehen und ihre Chancen sinken. Es ist verständlich, dass jeder Kreisverband seine Kandidat*inn*en mit einem Votum versieht – aber die sind in Bonn noch nichtmal aufgestellt. Die Landesreserveliste wird erst Mitte Dezember vom Landesparteitag NRW aufgestellt. Das Landtagswahlrecht in NRW ist dabei sehr demokratisch: es sieht vor, dass sich bis zur Eröffnung des jeweiligen Wahlgangs für einen Listenplatz auf der “Landeswahlversammlung” jede und jeder Bürger*in als Kandidat*in zur Wahl stellen kann. Sie/er stellt sich vor, bei den Grünen auf Frauenplätzen und offenen Plätzen, und dann wird von den Delegierten gewählt. Ein ausgesprochen (basis-)demokratisches Verfahren, vom Gesetz so für alle Parteien vorgesehen. Und manchmal gibt es auch Überraschungen.

Bezirksverbände zum Kungeln

Das ist auch bei Grüns einmal geschehen, als sich 2004 zwei Kandidatinnen der “linken” und “Realos” in drei Wahlgängen so verharkten, ohne dass keine die qualifizierte Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen konnte. Da trat Ute Koczy im neu eröffneten Wahlgang spontan an und wurde mit großer Mehrheit gewählt. Die Grünen schicken sich aber seit Jahren an, genau diese demokratische Möglichkeit de Facto politisch zu unterlaufen. Durch vorfestgelegte Kandidaturen mittels Absprachen der Bezirksverbände, die monatelang im Vorfeld in Hinterzimmern ausgekungelt werden. Zugegeben: In früheren Zeiten haben sich Grüne auf ihren Parteitagen manchmal gequält und mussten drei Landesversammlungen abhalten, um die Liste aufzustellen – das war nicht immer schön, bis hin zu Selbstzerfleischung.

Funktionäre entscheiden nun vor

Aber seit Mitte der 2000er findet man in den Protokollen der Delegiertenkonferenzen bis Listenplatz 20 praktisch keine Gegenkandidaturen mehr – alle Wahlen wurden im Vorhinein per Proporz zwischen mächtigen Bezirksfürst*inn*en, den mehrheitsführenden “Realos” und manchmal auch den inzwischen marginalisierten Linken abgekaspert. Flügelunabhängige Basismitglieder hatten daneben nicht die geringste Chance. Warum ist das so gravierend? Über die Landesreserveliste werden diejenigen Kandidat*innen gewählt, die keinen Direktwahlkreis mit der Erststimme gewinnen, und die nach der Mandatsverteilung von Direktmandaten nach dem Gesamtergebnis der Partei “übrig bleiben”. Die “Voten” der Kreisverbände sind dabei die entscheidenden Auswahlargumente – für die Kungelrunden der Bezirksfürsten. Früher kam keine einzige grüne Kandidatin direkt ins Parlament. Seit sich die Prognosen den 30% nähern, wird das anders. 2022 ist davon auszugehen, dass Grüne in Köln, Münster, Bonn, Bielefeld, vielleicht auch in Aachen, Wuppertal, Essen oder Dortmund Direktmandate erringen werden. Da tritt die Bedeutung der Landesliste in den Hintergrund. Welchen Sinn haben da Voten Mitte 2021?

Politische Programme und Koalitionsoptionen völlig unklar

Ich bin nicht der einzige Grüne, der seine Unterstützung für ein Mandat an politischen Inhalten eines oder einer Kandidat*in festmacht. Mir ist es wichtig, zu wissen, wie die etwa zum neuen Demonstrationsrecht in NRW stehen, ob sie Bäume für einen Expressradweg fällen wollen, oder ob die Grünen weiter eine Bürgerrechtspartei sein werden, die sich auch der reaktionären Polizei-, Flüchtlings- und Verfassungschutzpolitik der CDU und der SPD konsequent entgegenstellen und endlich ein Innenministerium anstreben, um 40 Jahre reaktionäre Kumpanei der CDU/SPD Innenpolitik zu durchbrechen. Wie soll ich als Kreisverbandsmitglied “Voten” für Kandidat*inn*en der Landesliste vergeben, von denen ich gar nicht wissen kann, wie sie im Dezember zum dann zu verabschiedenden Programm stehen? Wie sollen die Mitglieder des Kreisverbandes Bonn sich bis zum 1.6.2021 ein Bild über die Kandidat*inn*en machen, die erst im Dezember kandidieren werden?  Wenn der Ausgang der Bundestagswahl so offen ist, wie jetzt, wenn es zwar eine politische Wechselstimmung gibt, aber niemand weiss, welche Konstellation dieser Wechsel erstmalig im Bund hervorbringen wird?

Viel zu viele Variablen für eine sinnvolle Entscheidung

Wenn niemand weiss, wie diese Konstellation sich dann auf NRW auswirken wird, sind alle “Voten” Spekulation. Denn bisher haben Wahlergebnisse im Bund immer einen Reflex auf die Wahlergebnisse in NRW ausgelöst. Wie soll ein Basismitglied der Grünen im Frühsommer 2021 eine seriöse Meinungsäußerung zu Kandidaturen abgeben können, deren Rahmenbedingungen derart unbestimmt sind? Sollen sie sich etwa mit einem mehr oder weniger  geschickt aufgemachte DIN A 4  Flyer zur Kandidatur mit mehr oder weniger professionell in Szene gesetzten Worten zufrieden geben? Wie politisch blind muss man/frau sein, um die Absurdität einer solchen Anmutung nicht sofort zu erkennen?  Erschwerend unter den Bedingungen der Corona-Krise für die Kommunikation und die Demokratie? Wie spontan und flexibel ist Grüne Politik denn noch? Und wo bleibt die Chancengleichheit von Kandidat*innen, die sich nicht den Grün-internen Kungelregeln unterwerfen oder diese gar nicht kennen, aber sich an das Wahlgesetz halten? Hätte unter diesen Bedingungen etwa Luisa Neubauer eine Chance, ohne Kungelprotektion aufgestellt zu werden?

Verfassungsrechtliche und politische Bedenken 

Die einen Bedenken sind Verfassungsrechtliche. Wie frei entscheiden Delegierte einer Landeswahlversammlung nach Landeswahlgesetz noch, wenn schon Monate vorher, durch Fristen der Partei gesetzt, nur eine begrenzte Zahl von Kandidat*innen die Chance hat, sich im Landesverband bekannt zu machen, während diejenigen, die sich vielleicht erst im November 2021 entschließen, sich um ein Mandat zu bewerben, dann faktisch durch das jahrelang bewährte Karussell der Absprachen in kleinen Funktionär*innenkreisen keinerlei Chancen mehr haben? Wenn es Corona-bedingt keine Regionalkonferenzen geben kann, auf denen sich Kandidat*innen vorstellen und Fragen der Mitglieder beantworten?

Weitere Bedenken sind strukturell-politischer Natur: Bei allen bisherigen Landtagswahlen spielte die Differenzierung zwischen Wahlkreiskandidat*innen und Landeslistenkandidat*innen nur für CDU und SPD eine Rolle. Bei der nächsten Landtagswahl könnte das, wenn die Ergebnisse für die Grünen zwischen 20% und 30% oder mehr ergeben, aber völlig anders sein – sie könnten wie in Baden-Württemberg viele Direktmandate gewinnen. Ob das so sein wird, ist aber völlig offen, hängt von vielen Faktoren , wie dem Ausgang der Bundestagswahl ab. Die Landtagswahl in NRW ist eben erst am 15. Mai 2022 – und das spricht gegen eine völlig absurde vorzeitige Festlegung von Delegiertenvoten fast ein Jahr vorher.

Wem soll dieser politische Blindflug nützen?

Das Landtagswahlprogramm der Grünen, an dem sich nach Ansicht vieler Grüner Basismitglieder die Kandidat*innen messen lassen müssen, wird ebenfalls erst im Dezember beschlossen. Auch deshalb ist es abenteuerlich, dass Grüne Mitglieder bereits am 1.6.2021 Voten für eine nicht abgeschlossene Anzahl von Kandidat*innen in Ermangelung der Kenntnis deren politischer Positionen zum Grünen Programm abgeben sollen.  Aufgrund der offenen Fragen zu möglichen Konstellationen und Koalitionen, die heute noch nicht einmal im Ansatz absehbar sind, ist in NRW kaum abzusehen, welche Partei realistische Chancen hat, weil auch hier Bundestagswahl und ein halbes Jahr Landespolitik ohne Laschet eine entscheidende Rolle spielen werden.  Denn nur Wüst, Lienkämper, der Landtagspräsident und der unsägliche Justizminister kommen als Interims-Ministerpräsident in Frage, weil der Landtagsmitglied sein muss. Alle als Nachfolger Laschets gehandelten wie Reul, Laumann oder Scharrenbach sind keine Landtagsmitglieder. NRW 2022 ist heute ein schwarzes Loch. Ist es unter diesen Umständen völlig abwegig, wenn die Grüne Basis die Befürchtung äußert, dass diese Voten ausschließlich dazu dienen sollen, dass sich genau die seit Jahren etablierten Funktionärszirkel ohne wirkliche politische Legitimation in gegenseitigen Absprachen ihre Landeslisten “zusammenbasteln” und per Absprachen gewachsene Strukturen perpetuieren?

Parteireform dringend erforderlich

Das wäre genau das Gegenteil dessen, für das einmal Grüne in der Parteienlandschaft angetreten sind. Für Transparenz, Chancengleichheit und Durchlässigkeit und gegen Hinterzimmerkungelei, Seilschaften, Funktionärseinflüsse. Die SPD hat vor 25 Jahren den Einfluss der Bezirksverbände abgeschwächt. Die hatten zu Zeiten Johannes Raus die einzige Bedeutung, dass ihre Vorsitzenden immer Minister wurden. Die Grünen NRW haben in den 90er Jahren Bezirksverbände eingeführt. Sie sind bis heute die politisch-inhaltlich bedeutungslosesten, aber Macht- und personalpolitisch entscheidendensten Gremien der Landespartei NRW. Die Voten der Kreisverbände für bestimmte Kandidat*innen sind wie Spielkarten in der Hand der Bezirksfürst*innen. Wer viele Voten vorweisen kann, hat Damen und Buben, Asse und 10er auf der Hand, um sie beim “Doppelkopf” um die vorderen Listenplätze ausspielen und nebenbei seine Macht festigen zu können. So konterkarieren diese Strukturen eigentlich alles, was die Grünen einmal ausgemacht hat: Offenheit, Transparenz, Spontaneität und die Bereitschaft, mit den Prinzipien ökologisch, sozial, basisdemokratisch und gewaltfrei die Welt ein kleines Stückchen besser zu machen. Da gibt es viel zu reformieren.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net