Interview von Ute Evers mit Cristiane Mazzetti und Eliane Gomes-Alves zur Umweltpolitik der Regierung Bolsonaro
Wie schätzen Umweltaktivist*innen und kritische Wissenschaftler*innen die Umweltpolitik der Regierung Bolsonaro ein? Darüber sprach Ute Evers mit den beiden Brasilianerinnen Cristiane Mazzetti und Eliane Gomes-Alves. Mazzetti hat an der Universität von São Paulo (USP) und der London School of Economics studiert und arbeitet als Campaignerin im Amazonasteam von Greenpeace, Eliane Gomes-Alves arbeitet im Max-Planck-Institut für Biogeochemie in Jena. Ihr Forschungsgegenstand besteht darin, herauszufinden, wie bestimmte von Pflanzen produzierte Gase die Atmosphäre und damit das Klima beeinflussen.

Der brasilianische Amazonasregenwald ist in den letzten Jahren aufgrund seiner verheerenden Brände und ebensolchen Klimapolitik von Präsident Jair Bolsonaro international in den Fokus gerückt. Brasilien war neben den USA und China einer der Blockierer der Weltklimakonferenz 2019 in Madrid. Was ist der größte Schaden, der auf das Konto der aktuellen Regierung geht?

Cristiane Mazzetti (C.M.): Der größte Schaden liegt in der Zerstörung der öffentlichen Politik, die Jahre brauchte, um geschaffen zu werden, und große finanzielle Mittel für ihre Gestaltung und Umsetzung erforderte. Die Maßnahmen des „Aktionsplan zur Prävention und Kontrolle der Entwaldung im legalen Amazonasgebiet“ (PPCDAM), der die Entwaldungsraten zwischen 2004 und 2012 erfolgreich gesenkt hat, beinhalteten unter anderem die Schaffung von Schutzgebieten und indigenem Land sowie zuverlässige Kontrollmaßnahmen. Unter Bolsonaro wurden die Kontrollorgane Ibama (Instituto Brasileiro do Meio Ambiente e dos Recursos Naturais Renováveis ) und ICMBio (Instituto Chico Mendes de Conservação da Biodiversidade ) durch die Militarisierung ihres Personals (dort tätige Wissenschaftler*innen und Leitungskräfte wurden durch Militärs ersetzt – die Red.), Budgetkürzungen und den Verlust der Führungsrolle dieser Institutionen bei der Durchsetzungsarbeit komplett deaktiviert. Darüber hinaus beinhaltet kein von der brasilianischen Regierung vorgelegter Entwurf die Schaffung neuer Schutzgebiete, obwohl es rund 50 Millionen Hektar nicht ausgewiesene öffentliche Wälder gibt, die weiterhin von Landräubern im Amazonasgebiet überfallen und abgeholzt werden.
Neben der systematischen Demontage der Strukturen und Politiken, die den brasilianischen Wald schützen, hat die Regierung die Umweltkriminalität durch Dekrete gefördert, die darauf abzielen, den Umweltschutz zu lockern und Umweltkriminalität zu legalisieren. So hat etwa die illegale Besetzung und Invasion von öffentlichem Land zugenommen. Dafür Verantwortliche wissen, dass sie nicht nur nicht bestraft, sondern durch Änderungen im Rechtsapparat sogar belohnt werden sollen.
Zwischen 2004 und 2012 wurde durch eine Reihe von Maßnahmen zur Eindämmung der Abholzung deutlich gemacht, dass Umweltverbrechen nicht toleriert werden. Was in der Zeit erreicht wurde, geht nun Tag für Tag verloren. Wir nähern uns immer mehr dem Point of no Return des Amazonas und riskieren, seine unzähligen Umweltleistungen für die gesamte globale Gesellschaft zu verlieren.
Diskreditierung wissenschaftlicher Erkenntnisse
Eliane, wie sehen Sie das aus wissenschaftlicher Sicht?
Eliane Gomes-Alves (E. G-A): Genauso! Brasilien verzeichnet seit einigen Jahren schon einen Rückgang der Investitionen in die Forschung, der sich aber seit 2018 noch verschlimmert hat. Die Höhe der Stipendien für Graduiertenstudien und für wissenschaftliche Assistenten wurde reduziert, was die Anzahl der Forschungen verringert. In Brasilien wird ein Großteil der wissenschaftlichen Forschung durch Postgraduierte durchgeführt. Wenn Sie also die Anzahl der Stipendien reduzieren, reduzieren Sie die Anzahl der Menschen, die in Brasilien arbeiten und Wissenschaft produzieren.
Der Abbau der Umweltschutz- und Kontrollstrukturen ist für die Wissenschaft ebenfalls fatal. Viele junge Menschen sind entmutigt, eine wissenschaftliche Laufbahn im Umweltbereich einzuschlagen, weil sie sehen, wieviel zerstört und missachtet wird. Es herrscht ein Gefühl der Ohnmacht angesichts von so viel Vernachlässigung und Angriffen auf die Wissenschaft, die die Wichtigkeit des Erhalts des Amazonas zur Abschwächung der Auswirkungen des Klimawandels aufzeigt. Wenn die ganze Welt bereits durch die Wissenschaft verstanden hat, dass der Klimawandel eine Tatsache ist und dass das Leben vieler Menschen dadurch stark beeinträchtigt wird und werden wird, warum bürstet der brasilianische Staat dann so gegen den Strich? Brasilien hat hervorragende Wissenschaftler! Es gibt kein Problem mit der Qualität der entwickelten Wissenschaft. Das Problem ist der Wert, der ihr nicht zugemessen wird, und damit der fehlende Anreiz für die Wissenschaftler. Umweltwissenschaftler im heutigen Brasilien zu sein, erfordert in gewisser Weise einen Aktivismus, den nicht jeder bereit ist zu leisten.
Mit dem Rückgang der wissenschaftlichen Investitionen und der Diskreditierung wissenschaftlicher Erkenntnisse verlassen viele Wissenschaftler Brasilien, wenn sich eine Gelegenheit bietet. Mein Fall ist beispielhaft dafür. Als Brasilianerin arbeite ich für ein deutsches Institut und kann dort besser forschen, als ich es in Brasilien tun könnte.

Nach den Waldbränden kam es zu internationalen Protesten, als sich im Juni 2020 die CEOs großer brasilianischer und internationaler Unternehmen mit einem Brandbrief an den Vizepräsidenten (und ehemaligen General!) Hamilton Mourão, der auch Präsident des Nationalen Amazonasrates ist, wandten. Sie drohten damit, ihre Investitionen zurückzuziehen, wenn die Zerstörung des Amazonasregenwaldes nicht gestoppt werde. Wie glaubwürdig sind solche Proteste, wenn unter den Unterzeichnern zum Beispiel der deutsche Agrochemieriese Bayer ist, der dafür bekannt ist, in Europa verbotene Pestizide weiterhin in den globalen Süden zu vermarkten?

C. M.: Die Antiumweltpolitik der Regierung Bolsonaro hat bei einer Reihe von internationalen Akteuren negative Reaktionen hervorgerufen, einige mit mehr oder weniger glaubwürdiger Kritik an der fortschreitenden Waldzerstörung und Umweltdegradation. Obwohl der Mangel an Ressourcen zu den Hauptverteidigungslinien der brasilianischen Bundesregierung gehört, mit der sie ihre Untätigkeit rechtfertigt, entspricht dies nicht der Wahrheit. Es steht Geld zur Verfügung, das ausgezahlt werden könnte, um die Abholzung einzudämmen und Waldbrände zu verhindern. Ein schillerndes Beispiel ist der Amazonasfonds mit etwa 3 Milliarden Reais in bar, gegen dessen Einfrieren durch die Regierung zivilgesellschaftliche Organisationen und politische Parteien beim Obersten Gerichtshof klagen. Der Amazonasfonds finanziert etwa Aktivitäten bezüglich des Managements von Schutzgebieten und der Umweltüberwachung.
Das Problem liegt also nicht in der Verfügbarkeit von Ressourcen, sondern im politischen Willen. Die Verwendung vorhandener Ressourcen zu stoppen und die Budgets wichtiger Agenturen (wie Ibama und ICMBio) zu kürzen beziehungsweise einzufrieren ist ein Weg, den Umweltschutz zu untergraben und Umweltagenturen durch Untätigkeit lahmzulegen.
In Bezug auf Bayer und andere Unternehmen, die in der Europäischen Union verbotene Pestizide nach Brasilien exportieren, ist die Position vieler zivilgesellschaftlicher Organisationen eindeutig: keine Produkte in andere Länder exportieren, deren Verwendung im eigenen Wirtschaftsblock verboten ist! Der von Greenpeace International verfasste Bericht bezüglich des Abkommens zwischen der EU und dem Mercosur von 2020 prangert die doppelten Standards bei Agrotoxika an und zeigt auf, wie sehr die Europäische Union und deutsche Unternehmen vom Verkauf von biodiversitätsschädlichen Pestiziden in den globalen Süden profitieren.
Zivile Klimabewegungen
Wie aktiv können zivile Klimabewegungen, politische Aktivist*innen in Zeiten von Bolsonaro sein?

C. M.: In der Vergangenheit (also vor der Regierung Bolsonaro) sah die Bundesregierung die Zivilgesellschaft als strategischen Akteur in der öffentlichen Politikgestaltung und in Aktionen, die zur Reduzierung der Abholzung beitrugen. Ein Beispiel ist das Sojamoratorium, das in Berichten des erwähnten PPCDAM als Maßnahme zur Eindämmung der Entwaldung angeführt wird. Diese Selbstverpflichtung des Privatsektors, die von Sojahändlern unterzeichnet wurde, war eine Reaktion auf den Druck zivilgesellschaftlicher Kampagnen, die den Zusammenhang zwischen Soja und der Abholzung von Wäldern im Amazonasgebiet aufzeigten.
Gegenwärtig hat die Regierung nicht nur den Dialog mit den NRO, den ländlichen Bewegungen und indigenen Völkern eingestellt, sondern auch die Beteiligung von Vertreter*innen der Zivilgesellschaft in den Räten reduziert beziehungsweise beendet. Darüber hinaus enthielt einer der Entwürfe des Plans zum Umgang mit der Abholzung im Amazonasgebiet die Absicht, 100 Prozent der in der Region tätigen NRO zu kontrollieren. Es gab auch Fälle von Beschuldigungen, Einschüchterungen und rechtlichen Schritten gegen Aktivist*innen und Umweltschützer*innen. Die Regierung ging 2019 so weit, dass sie den brasilianischen Geheimdienst (Abin) zur Überwachung der Zivilgesellschaft während der Klimakonferenz in Madrid (2019) einsetzte. Indem die Regierung die Rolle der Zivilgesellschaft beim Umweltschutz weder anerkennt noch respektiert, zeigt sie ihr mangelndes Engagement für die Demokratie und verschwendet zudem freie und qualitativ hochwertige Beiträge zur Gestaltung, Umsetzung und Bewertung der öffentlichen Politik zum Schutz der Wälder.

Eliane, als Wissenschaftlerin verbringen Sie immer wieder einige Zeit im Amazonasgebiet. Wie ist die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftler*innen aus dem Ausland und indigenen Expert*innen und/oder indigenen Organisationen?

E.G-A: In meiner Arbeit gibt es keine Interaktion mit indigenen Völkern, aber ich glaube, dass viele Sozial- und Sozio-Umweltwissenschaftler*innen aus verschiedenen Institutionen auf der ganzen Welt diese Art der Zusammenarbeit entwickeln.
Meiner Meinung nach umfasst Transdisziplinarität Ansätze, die versuchen können, komplexe Fragen zu lösen, wie sie im Amazonasgebiet vorliegen. Mehrere Forschungslinien versuchen immer mehr, in dieser Richtung zu arbeiten. Uns liegen Studien vor, die aufzeigen, wie der Amazonaswald im Lauf der Zeit zusammen mit der Lebensweise vieler alter Völker gestaltet wurde. In großen Regionen des Amazonas gibt es Pflanzenarten, die von verschiedenen Völkern domestiziert wurden. Zu verstehen, wie die menschliche Spezies bei der Entstehung des Waldes, den wir heute sehen, gewirkt hat, kann viel zum Verständnis der Funktionsweise des Waldes und seiner Erhaltung beitragen. Indigene und traditionelle Völker haben viel zur Vermittlung dieses Verständnisses beizutragen, vor allem, weil sie aktiv an der Erhaltung und Nachhaltigkeit des Waldes beteiligt sind. Die eurozentrische Vision des unberührten und unantastbaren Amazonas basiert auf einer kolonisierenden Sichtweise. Es ist notwendig, die Wissenschaft zu dekolonisieren.
Bedeutung des Amazonas für die Welt
Haben Sie manchmal den Eindruck, dass der Schutz des Amazonas zu sehr von äußeren Interessen bestimmt wird?

E.G-A und C. M.: Der korrekte Begriff wäre nicht wirklich „bestimmt“, der Amazonas wurde von den Regierungen und der brasilianischen Bevölkerung immer als souverän verstanden und sein Schutz wurde historisch von Ureinwohner*innen angeführt. Aber ja, wir dürfen den Einfluss internationaler Belange auf die Ausrichtung der öffentlichen Politik nicht unterschätzen.
Aufgrund des Klimanotstandes und des beschleunigten artensterbens sind sich mehr Menschen und Länder der Bedeutung des Amazonas für die Welt (in Bezug auf seine Umweltleistungen) bewusst geworden. Dies gilt auch für die konsumierten Produkte, die mit der Abholzung von Wäldern in Verbindung gebracht werden können. Heute ist die Welt durch lange Wertschöpfungsketten stark vernetzt. Immer mehr Länder und Menschen wollen nicht, dass ihr Konsum an die Zerstörung eines so wichtigen Gutes für unsere Zukunft, des Amazonas, gebunden ist oder diese finanziert.
Doch überschneidet sich auch das von außerhalb Brasiliens, oder Südamerikas, denn das Amazonasgebiet ist ja nicht nur brasilianisch, kommende Schutzinteresse mit eher gegensätzlichen und widersprüchlichen Interessen. Der Export von Giften deutscher Firmen wie Bayer, die in Europa verboten sind, zeigt, wie gravierend diese Widersprüche sein können und wie gering das Interesse an der Erhaltung des Amazonas in Ländern des globalen Nordens tatsächlich ist.
Brasilien ist nicht von internationalen Interessen abhängig und muss es auch nicht sein, um den Wald zu erhalten. Es ist jedoch notwendig, dass aufseiten der Regierung ein Mentalitätswandel stattfindet. Heute basiert das Entwicklungsmodell der Region auf der Gewinnung natürlicher Ressourcen, auf Großgrundbesitz, großflächiger Landwirtschaft und Viehzucht. Wir brauchen, unabhängig von äußerem Druck, eine andere Sichtweise auf den Amazonas und eine viel nachhaltigere und inklusivere Entwicklung, ein Modell, das den Wald erhält und echte Verbesserungen auch für die Menschen in der Region bringt.

Das Gespräch mit Cristiane Mazzetti und Eliane Gomes-Alves führte Ute Evers. Sie ist freie Literaturkritikerin, Schwerpunkt Lateinamerika und schreibt für deutschsprachige und kubanische Medien. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 447 Juli/Aug. 2021, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt.

Über Informationsstelle Lateinamerika (ILA):

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