Northstream2 und „Performativ die Normen aufrechterhalten“
Joe Biden (USA) und Angela Merkel (BRD) haben rechtzeitig vor der Bundestagswahl ein querulatorisches Problem abgeräumt. Weil es nicht wichtig genug ist, mit seinem Quengeln von den grossen Problemen abzulenken. Der grosse Konkurrent der USA ist nicht mehr Russland (“Regionalmacht”, aber immerhin Atommacht), sondern China. Die USA können mehrerlei in diesem entscheidenden Weltmacht-Konkurrenzkampf überhaupt nicht gebrauchen.
Erstens einen bedeutsamen mittelmächtigen Verbündeten, in Gestalt der EU-Führungsmacht Deutschland, die eigenen strategische Kreise stören zu lassen. Die Aussichten der Bundestagswahl sind günstig, dass dieser Verbündete fügsamer wird. Das Risiko, dass er “zu stark” wird, besteht nicht. Dafür erweist er sich in der EU als zu führungsunfähig, und wird dort so stark gebunden, dass er nicht viel darüber hinausreichenden Unsinn anstellen kann. Sollen die sich mit Russland und der Ukraine rumärgern (und vor allem: zahlen).
Zweitens ist die Konfrontation mit Russland zweit- bis drittrangig. Es wäre für die USA nicht von Vorteil, wenn es von Deutschland und der EU (und gar den USA) China direkt in die Arme getrieben würde (= zwei Atommächte). Da sollen sich die Deutschen mal drum kümmern (anstrengend und teuer genug). Vielleicht werden die Russen, wenn sie souverän bleiben sollten (was nicht sicher ist), mittelfristig noch mal gebraucht, wenn mit China eines Tages über Rüstungskontrolle verhandelt werden muss.
Ein Atlantiker, der aber privat mit einer Chinesin verheiratet ist, ist Stefan Baron. Als alter Wirtschaftsjournalist kennt er die Funktion von Marktlücken. Und da tut sich hierzulande ein Krater auf: die realistische Betrachtung globaler Weltmachtkonkurrenzen war in Deutschlands Publizistik noch in keinem Zeitalter zuhause. Der linke Watchblog zur Aussenpolitik, german-foreign-policy.com hat ihn, den ökonomisch radikalen Neoliberalen, zurecht “entdeckt” (dieser Link verschwindet in einigen Tagen in einem Paywallarchiv). Dort wird Baron wie folgt referiert: “Baron setzt explizit auf die ‘Emanzipation Europas’ von den Vereinigten Staaten. Die Interessen der europäischen Mächte, urteilt er, ‘decken sich weder mit denen der USA noch mit denen Chinas’; deshalb müssten sie sich nicht ‘zwischen diesen beiden Mächten entscheiden’, sondern ‘einen dritten, unseren eigenen Weg wählen’: ‘Multipolare Weltordnung und friedliche Koexistenz der Systeme’ sollten ‘Grundlage europäischer Außenpolitik’ werden.” Das könnte glatt von Hans-Dietrich Genscher sein. Und wäre heute ein Alptraum für Joe Biden und Xi Jinping. Mann stelle sich vor: eine EU an der Spitze einer neuen Blockfreienbewegung. Wer solche Visionen hat, muss zum Arzt gehen.
Wie es zwischen den Mächten realistisch zugeht, das enthüllten in diesen Tagen die Meldungen zur israelischen Pegasus-Software, als auch das dröhnende Schweigen über andere Abhöraffären “unter Freunden”. Diese Fälle zeigen den Stand des staatsmonopolistischen Kapitalismus im Rüstungs- und Geheimdienstbusiness, in dem demokratisch legitimierte Politik an Bedeutung verliert, sie zum Teil freiwillig abgibt.
An der Biden-Administration ist auffällig, wie sie auf der Basis einer realistischen Analyse ein regionales Problem nach dem anderen abräumt, weil sie weiss: wir sind im Abstieg, China im Aufstieg. Wir müssen alle Kräfte darauf konzentrieren, das abzubremsen und unter Kontrolle zu bekommen (die die Trump-Administration komplett verloren hatte) – bevor “es” zu spät ist. Möglicherweise ist es das nämlich schon …
Es gibt ein gemeinsames Interesse der Mächtigen dieser konkurrierenden Staaten: wie halte ich die Beherrschten unter Kontrolle? Die technisch ausgereiftesten Konzepte dafür bieten China, Kalifornien und Israel. Die Achillesferse dieser technikfixierten Konzepte ist: der Mensch; die Politik. Immer noch nicht berechenbar …

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net