Tod des/dem Linksliberalismus?
Wenn das FAZ-Finanzressort über eine EZB-“Research”-Videokonferenz berichtet, dürfen Sie und ich davon ausgehen, dass das von den Mächtigen nicht ignoriert wird. Wenn Madame Lagarde die gesendete Botschaft durch eigene – ich fühlte mich an Berlusconis oder Trumps TV-Interventionen erinnert – Initiative hochpegelt, dann wüsste ich allzu gerne, wie die Bundeskanzlerin das heute beim Morgenkaffee kommentiert hat. Aber die kandidiert ja nicht mehr.
Ob die Bundeskanzlerin in spe dazu eine Meinung hat, kann ich nur vermuten. Sie hat wohl gegenwärtig andere Sorgen. Die Grossmacht Deutschland ist im Wahlkampf-Interregnum, was sich landestypisch zu einer Agonie auswächst. Selbst die Pandemiebekämpfung ist ausgesetzt; die geht laut Prof. Drosten erst nach der Wahl weiter. Aus heutiger Sicht bräuchte die alte BRD (+ Westberlin) einen neuen Lockdown, vor allem der Schulen, während die DDR eher virusfrei aussieht. Der “Wettbewerbsvorteil”, den die Ostkinder sich so ergattern könnten, wäre doch mal ein ganz innovatives Element von Gerechtigkeit, oder? Frau Merkel, was meinen Sie? Wann ist ihre nächste Konferenz mit ihren heissggeliebten Ministerpräsident*inn*en? (in Bonn übrigens steigt die 7-Tage-Inzidenz nicht mehr, aber die Hospitalisierung – 60, davon 24 Intensiv – ist eher beunruhigend)
Stürzt sich der Linksliberalismus selbst ins Schwert?
Werden wir wieder ernsthaft. Der von mir hochgeschätzte Georg Seesslen/taz hat dem Linksliberalismus sein persönliches Requiem gelesen. Möglicherweise liegt hier eine Verwechslung vor. Was Seesslen beschreibt und analysiert, ist ein Klischee des gegenwärtigen Grünen-Milieus, und zwar (nur) in Deutschland. Linksliberale eint laut Seesslen, dass “die sich darin gleichen, dass sie nicht den Bruch mit dem System suchen, sondern seine Verbesserung”. Die Linksliberalen z.B., zu denen ich mich zähle, woll(t)en das System “überwinden” – das ist kein semantischer, sondern ein inhaltlicher Unterschied. Denn Seesslens Diagnose “Der innere Widerspruch im System des Westens ist der zwischen Demokratie und Kapitalismus.” – die ist absolut zutreffend.
Dennoch ist sein Blick nicht nur allzu eurozentristisch, sondern auch deutschbegrenzt (“deutschnational” wollte ich nicht schreiben, ein belegter Begriff, der den klugen Autor beleidigen würde). Schon Europa betreffend sieht die Realität anders, weit schlechter für den Linksliberalismus aus. Aus eigenem bornierten Verschulden und mangelhafter Analyse des Kapitalismus, den er über Osteuropa hat herfallen lassen, bzw. sich sogar mutwillig daran beteiligt hat. Sowas kommt von sowas.
Noch weiter daneben liegt Seesslen global betrachtet. Aus traurigem, politisch skandalösem Anlass hat das erst vor wenigen Tagen Navid Kermani richtiger gestellt. Die Mehrheit der Menschheit wünscht ziemlich genau so ähnlich leben zu können, wie deutsche Linksliberale. Doch der globale Kapitalismus lässt sie nicht rein. Linksliberale, die das nicht bekämpfen, so weit hat Seesslen recht, denen gehts dann irgendwann so ähnlich, wie jetzt der Frau Baerbock.
Und wenn der Linksliberalismus keinen Widerstand gegen die Auslieferung demokratischer Teile der Welt an das Feudalregime Qatars leistet, dann hat Frau Baerbock nur die kleineren, fast schön süssen Probleme.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net