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Delegitimation

“Totschweigen” scheitert immer – 9/11 als Umwälzpumpe der Öffentlichkeit
Heute Abend betreiben die öffentlich-rechtlichen Sender ARD, ZDF und DLF (plus Phönix, plus Tagesschau24) ein Einheitsprogramm. Ich werde nicht Teil des Publikums sein. Der Schwall, der morgen früh aus dem Radio kommt, wird mir genügen. Ich habe schon gewählt. Neue Informationen erwARTE ich nicht. Meine politischen Sympathien werden inhaltlich nur geringfügig vertreten sein. All das teile ich mit einer real existierenden Mehrheit der Bevölkerung. Und des Publikums.
In mir steigt ein gewisser widerwilliger Zorn auf über diese Einschränkung der Meinungs- sowie der kulturellen Vielfalt durch die ausführenden Medien. Denn ich bezahle sie ja mit. Eine steil anwachsende Minderheit, unter den Jüngeren eine klare Mehrheit, nutzt die Medien TV und Radio nicht mehr. Eine klare Mehrheit kauft keine Zeitung mehr, eine riesige und steil wachsende Minderheit fasst auch keine mehr an. Ich bin an der Schwelle dazwischen. Ich lese “Zeitungen” nur noch online, auf Papier noch in der Gastronomie (so wie Pay-TV). Ich nutze TV nur noch aus fauler Bequemlichkeit. Und um Barmittel zu sparen, die andere Medien mich kosten würden. Ich betreibe selbst ein kleines Medium, mit dem ich dieses Geschehen kritisch begleite. Das tut mir und meinem Kopf gut, weit besser, als wenn ich meinen Zorn in mich reinfressen und nur an einem Kneipentresen rauslassen würde.
9/11 war für all diese Prozesse ein zentraler Auslöser, wie eine gezündete Rakete. Die – ob nun demokratisch oder nicht – Herrschenden und die Mehrheit ihrer Medien mauerten sich in Kriegspropaganda ein. Was dabei herausgekommen ist, wissen nun fast alle besser als damals. Dass es so weit kommen konnte, lag auch am Versagen in all den Medien, die sich nun im Niedergang befinden. Und sie zeigen sich immer noch lernresistent, mindestens hierzulande.
Das wird an einem einfachen Beispiel deutlich. Bei den gestrigen Trauerfeiern in den USA war eine Rede des US-Präsidenten nicht gewünscht. Und zwar von den Hinterbliebenen der Todesopfer, deren Namen liturgieähnlich vorgetragen wurden. Heribert Roth, den ich als kritisch denkenden WDR-Korrespondenten seit Jahrzehnten mit Zustimmung beobachte, wagte sich in der Tagesschau noch am weitesten vor (nur im eingebetteten Video, nicht im Onlinetext), indem er diesen Sachverhalt überhaupt erwähnte. Ich hörte einen ähnlichen Satz auch in den DLF-Nachrichten; online ist er dort jedoch nicht auffindbar. Roth liess die mutmassliche Mehrheit des Tagesschau-Publikums ratlos zurück; auch die gelegentlich patente Christiane Meier trug mit den von ihr gesendeten “Aufsagern” nicht zur Aufklärung bei. Ist das Selbstzensur oder wird das in Hamburg bei “ARD-aktuell” rausgeschnitten? Warum taten die Angehörigen das? Hassen sie Biden? Sind sie Trump-Anhänger? Nichts von alledem.
Die 2,6 Mio. Monitor-Zuschauer*innen wissen es besser, auch die – ich weiss nicht wie viele – Telepolis-Leser*innen, von denen einige auch hier mitlesen. Eine Minderheit, eine Nische. Sie sind allerdings kommunikationsfreudig, sprechen mit Freund*inn*en und Verwandten, manche schreiben sogar selbst. Weihnachten und an Geburtstagen werden entsprechende Bücher (!, sehr altes Medium!), die ausnahmslos zu Bestsellern wurden, verschenkt. So breitet es sich aus, und hat es die letzten 20 Jahre getan. So dass viele, die heute darauf angesprochen werden, sich selbst erinnern, wie sie schon davon gelesen oder gehört haben. Freilich nicht in den TV-Nachrichten, nicht in ihrer Zeitung, nicht in ihrer Partei/ihrem Verein oder Verband. Dort sind alle Fragen und Zweifel in der 2001 kreierten Schublade “Verschwörungstheorie” diskursiv eingemauert.
Was hat es geholfen? Die Zweifel sind geblieben, breiten sich weiter aus. Die Medien, die daran mitgetan haben, indem sie ihre Arbeit nicht machten, schiffen weiter ab. Verlässliches – im Sinne des Wortes Alternatives – ist an ihre Stelle nicht getreten.
Es wird noch viel mehr in Bewegung (“Rutschen”?) kommen. Das heute Abend wird ungewollt dazu beitragen. Ich weiss noch nicht, was ich davon gut, und was ich schlecht finden werde.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net

Ein Kommentar

  1. Olav Schettler

    Es gibt ein Modell zur Rolle der Medien in unserer Gesellschaft, das „Propagandamodell“ von Chomsky & Herman, s. https://de.wikipedia.org/wiki/Propagandamodell von 1988. Das Modell selbst wird – erwartbar – wenig erwähnt, aber 2018 gab es eine Zusammenfassung wissenschaftlicher Artikel (s. Wikipedia -Referenzen) dazu.

    Ich bin noch nicht tief genug eingestiegen, aber vielleicht hilft eine solche, wissenschaftliche Betrachtung, ein besseres Modell von „Medien“ zu konzipieren, als wir es heute haben. Ich denke da an sowas wie „Gewaltenteilung“ und Entkommerzialisierung“, ähnlich wie es unsere Richter sind/sein sollten.

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