Die Wähler kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die Union zeigt sich enttäuscht von ihrem Wahlergebnis und erzürnt über ihren Kanzlerkandidaten Laschet. Diese Reaktion zeugt von Naivität und Realitätsverlust. Schon Wochen vor der Wahl hatten die Umfragen die Niederlage angekündigt. Wer sich überrascht zeigt, entpuppt sich als Träumer.

Auf die Nase gefallen

Bei vier Bundestagswahlen ließen sich die Unionsabgeordneten von Merkel in den Bundestag tragen. Dann sägten sie 2018 die CDU-Vorsitzende ab. In diesem Jahr mussten sie sich dann erstmals ohne „Muttis“ schützende Hand dem Wähler stellen. Prompt fiel die Union auf die Nase.

Der Umgang der Union mit den Wählern wurde schon im Wahlkampf als Zumutung empfunden. Der Umgang mit ihrer Niederlage wirkt noch abschreckender. Viele Abgeordnete und Funktionäre haben offenbar den Schuss nicht gehört. Es ist nicht zu erkennen, dass sie die Botschaft der Wähler verstanden haben.

Führungskräfte demontiert

Sie müssen seit mehr als fünf Jahren ertragen, dass sich die Unionselite nach allen Regeln der Kunst desavouiert. Die einen damit, dass sie das Führungspersonal der CDU demontieren. Andere damit, dass sie den Anführern der Selbstzerstörung kräftig applaudieren, statt sie zu stoppen.

Unter den Funktionären und Mandatsträgern der Union grassiert die seltsame Sucht, bei der Selbstzerstörung mitzuwirken, als wäre der Verfall der Union und die Demontage ihrer Führungskräfte der wahre Daseinszweck der Funktionäre.
Wie bisher weitergemacht
Unter diesen Bedingungen ist es ein Wunder, dass die Union 24 Prozent gewinnen konnte. Unionspolitiker, die über das Resultat jammern und auf den Kanzlerkandidaten Laschet eindreschen, müssen sich fragen, was sie seit der Wahl 2017 unternahmen, um die Selbstzerfleischung der Union zu beenden.

Diese Frage stellt sich vielen Funktionären offensichtlich nicht. Sie machen weiter wie bisher. CDU-Abgeordnete wie die Düsseldorferin Pantel wurden abgewählt, weil sie die CDU spalteten. Um Pantel das Handwerk zu legen, votierten viele unionsnahe Wähler diesmal für ihren SPD-Konkurrenten.

Um sich selbst gedreht

Dass Abgeordnete, die sich wie Pantel aufführten und schlechte Wahlergebnisse erzielten, nun Laschets Rücktritt fordern, bestätigt jene unionsnahen Wähler, die mit ihren Stimmen Kandidaten anderer Parteien unterstützten, um Unionskandidaten wie Pantel abzuwählen.

Die Union hat sich seit 2016 unablässig um sich selbst gedreht, dabei die Wähler aus dem Blick verloren und deren Geduld überstrapaziert. Die Wähler hatten es satt. Sie haben der Union bei der Bundestagswahl die Quittung verpasst.

Aus dem Blick verloren

Die meisten Wähler lassen sich nicht von ideologischen Einstellungen leiten. Sie erwarten, dass Parteien Probleme lösen. Parteien, die im Streit liegen und Probleme mit sich selbst haben, bieten keine Gewähr, die Probleme der Bürger zu lösen.

Man kann kaum nachvollziehen, dass sich die Union über ihre Niederlage erregt. Umfragen sagten sie und ihr Ausmaß voraus. Über ihre Streitereien verloren die Funktionäre sogar diese Daten aus dem Blick, an denen sie die Folgen ihres Treibens hätten ablesen können.

Den Niedergang fortsetzen

Der Aufruhr in der Union zeugt davon, dass sie sich noch immer nicht auf der Höhe ihrer Probleme befindet. Sie steht vor der Frage, ob sie sich mit ihrem Niedergang abfinden und ihn fortsetzen will oder ob sie sich darauf besinnt, den Weg für einen neuen Aufstieg zu suchen.

Wie schlecht es um die Union bestellt ist, zeigt sich daran, dass viele ihrer Funktionäre einen weiteren Führungswechsel in der CDU für nötig halten. Dieser Wunsch wird von der Annahme genährt, die Union hätte mit einem anderen Kandidaten die Wahl gewinnen und die Macht behaupten können.

Noch stärker zerlegt

Diese Illusion pflegen vor allem die CSU, die Konservativen und die Ost-CDU. Sie verhindern seit Jahren, dass die Union geschlossen und mit unbeschädigten Führungspersonal in Wahlkämpfe ziehen kann. Nach jedem Führungswechsel hat sich die Union noch stärker zerlegt.

Wie marode sie ist, zeigt die CSU. Sie arbeitet daran, die Union abzutakeln. Wie den Konservativen und der Ost-CDU ist Laschet auch der CSU zu liberal. Sie vergessen nicht, dass er Merkels Zuwanderungspolitik unterstützte.
Schlagkräftiger vertreten
Das Bündnis aus CSU, Konservativen und Ost-CDU demontierte Merkel, dann ihre Nachfolgerin Kramp-Karrenbauer. Inzwischen agiert es auch gegen deren Nachfolger Laschet. Es sieht viele Gründe, sich gegen ihn aufzubauen.

Die CSU verliert seit Jahren die Kraft, Bayerns Gesellschaft zusammenzuhalten. Sie hat sich stärker ausdifferenziert. Ihre Gruppen suchen sich Parteien, die aktuellen spezifischen Interessen ihrer Klientel schlagkräftiger vertreten können als die breit aufgestellte, träge CSU.

Die absolute Mehrheit verloren

Sie versteht sich nach wie vor als Volkspartei mit dem Anspruch auf absolute Mehrheiten. Dieses breit auslegende Parteimodell haben die Wähler bei der Bundestagswahl gerade eingedampft. Die CSU ist stark geschrumpft. Sie schreibt ihre abnehmende Attraktivität nicht ihren Defiziten zu, sondern denen des CDU-Vorsitzenden Laschet.

Seit die AfD 2013/14 aufkam, leidet die CSU unter Existenzangst. Sie sieht sich in Bayern von fünf Parteien bedrängt: von AfD, SPD, FDP, von den Grünen und außerdem von den Freien Wählern. Mit ihnen koaliert die CSU notgedrungen, seit sie bei der Bayernwahl 2018 die absolute Mehrheit verlor.

Die Konkurrenz kopiert

Die CSU konnte nicht verhindern, dass die Freien Wähler zur Bundestagswahl antraten. Sie scheiterten zwar an der Fünf-Prozent-Hürde, kosteten die Union jedoch jene Prozentpunkte, die sie vor der SPD zur stärksten Kraft hätten machen können.

Die CSU kann dem Konkurrenzdruck der übrigen bayrischen Parteien bisher nichts entgegensetzen. Um die AfD auszubremsen, versuchte die CSU zunächst, die neue Partei zu kopieren. Der Versuch scheiterte. Er stärkte die AfD und spaltete die Schwesterparteien.

Von Wahl zu Wahl geschrumpft

Der Richtungskampf in der Union verschaffte den Grünen in Bayern 2018 starken Zulauf von CSU-Sympathisanten. Wieder reagierte die CSU mit dem Versuch, die Politik der Konkurrenz, diesmal die der Grünen, zu simulieren. Auch dieser Versuch verfehlte sein Ziel, die Konkurrentin zurückzudrängen.

Die Atrophie der CSU hat seit 2014 von Wahl zu Wahl zugenommen. Sie ist seither stark vorangeschritten. Bei der EU-Wahl 2014 sank die CSU auf 40,5 Prozent (minus 7,6 Punkte), bei der Bundestagswahl 2017 auf 38,8 vH (minus 10,5 Punkte), bei der Bayernwahl 2018 auf 37,2 vH (minus 10,5 Punkte).

Den Schwund verschleiert

Eine kurze Verschnaufpause erhielt die CSU bei der EU-Wahl 2019. Damals schaffte sie es gerade noch, ihr schlechtes Ergebnis von 2014 mit 40,7 vH zu halten. Bei der Kommunalwahl 2020 sank sie auf 34.5 vH (minus 5,2 Punkte). Bei der Bundestagswahl 2021 landete sie bei 31,7 vH (minus 7,1 Punkte).

Je schlechter die Wahlresultate der CSU wurden, desto stärker drängte sich Söder in Vordergrund, zunächst in Bayern, dann im Bund. Aus Mangel an Ideen und Konzepten verschwendet er alle Energie darauf, den Schwund der CSU zu verschleiern und andere für ihn verantwortlich zu machen.
Die Konkurrenz im Nacken
Er redet die CSU gegen die Realität stark und stellt sich selbst als erfolgreich dar. Er schreckt vor Prahlerei und Selbstbeweihräucherung nicht zurück. Er beschäftigt die Medien und beeindruckt viele Bürger. Sie halten ihn für stark.

Dennoch schaut die CSU bangend auf die Bayernwahl 2023. Es fehlt der Partei eine Geschichte, mit der sie Wähler binden und gewinnen kann. Die Konkurrenten sitzt ihr im Nacken. Söder sucht Gegner, um zu glänzen. Erst arbeitete er sich an Seehofer und Merkel ab. Nun muss Laschet herhalten.

Jamaika nicht verlockend

Seit er 2017 in NRW mit einer schwarz-gelben Koalition Ministerpräsident wurde, empfindet ihn die CSU als Herausforderung. Im Verteilungskampf um Bundesmittel, den die CSU über ihre Bundesminister seit jeher dominiert, erwies sich Laschet als ein unangenehmer Konkurrent.

Die Aussicht, unter ihm als Kanzler mit den Grünen und der FDP zu koalieren, ist für die CSU nicht besonders verlockend. Jamaika würde zwei Konkurrenten der CSU stärken. Die Zahl ihrer Kabinettsposten fiele kaum ins Gewicht. Die Möglichkeit, überdurchschnittlich viele Bundesmittel nach Bayern zu leiten, würde schrumpfen. Die Chance, bei der Bayernwahl zuzulegen, würde noch kleiner.

Unter Druck geraten

Noch schwerer könnte die CSU unter Druck geraten, wenn die übrigen Parteien das durchsetzen, was sie angekündigt haben. Sie wollen das Wahlrecht ändern, um den ungehemmt wachsenden Bundestag deutlich zu verkleinern.

Reformversuche scheiterten vor allem an der CSU. Sie fürchtet, Direktmandate zu verlieren. Sollte die überfällige Reform des Bundestages kommen, würde die Macht der CSU weiter schwinden. Der Machtverlust der CSU würde sichtbar. Der Verlust ließe sich nur schwer Laschet zuschieben.

Zur Aufgabe drängen

Auch die Konservativen in der Union wollen ihre Probleme auf seine Kosten lösen. Sie lasten ihm an, er habe den Kurswechsel nach rechts unterbunden, als er ihren Kandidaten Merz beim Kampf um den CDU-Vorsitz besiegte.

Mancher hofft, den Kurswechsel doch noch zu erreichen, wenn sich Laschet wegen der Wahlniederlage aus dem CDU-Vorsitz drängen ließe. Diese Erwartung versteckt sich hinter der Parole, die Union sollte sich personell verjüngen. Junge, ehrgeizige konservative CDU-Politiker sollen ermuntert werden, Laschet zur Aufgabe zu drängen.

Mit Radikalen herumgeplagt

Ähnlich wie die CSU und die Konservativen in der Union verhält sich die CDU in den neuen Bundesländern. Seit der Vereinigung plagt sie sich mit radikalen Kräften herum, zunächst mit der Linken, heute mehr mit der AfD.

Die beiden radikalen Parteien fanden in den neuen Bundesländern gute Voraussetzungen, sich zu entfalten. Die Linke verspielte ihre Chancen inzwischen, die AfD hat sie ergriffen. Ihr Erfolg geht zu Lasten der CDU im Osten. Sie baut ab wie die CSU in Bayern.
Wucht entfalten
Wie die CSU nutzt auch die CDU in den neuen Ländern die Neigung der Bevölkerung, sich als Opfer der Bundespolitik zu sehen. Beide verbindet der Wunsch, sich gegen Anforderungen aus den alten Ländern zu wehren. Der östliche und der bayrische Teil der Union funken auf der gleichen Welle.

Sie sind daran gewöhnt, für ihre Probleme Schuldige zu suchen und zu finden. Obwohl jede Seite für sich an Kraft verloren hat, entfalten sie beträchtliche Wucht in der Union, wenn sie gemeinsam auftreten. Laschet bekommt sie gerade zu spüren. Bekommen wird sie der Union sicher nicht.

Über Ulrich Horn (Gastautor):

Begonnen hat Ulrich Horn in den 70er Jahren als freier Mitarbeiter in verschiedenen Lokalredaktionen des Ruhrgebiets. Von 1989 bis 2003 war er als Landeskorrespondent der WAZ in Düsseldorf. Bis 2008 war er dann als politischer Reporter in der Essener WAZ-Zentralredaktion tätig. Dort hat er schon in den 80er Jahren als Redakteur für Innenpolitik gearbeitet. 2009 ist er aus gesundheitlichen Gründen ausgeschieden. Seine Beiträge im Extradienst sind Crossposts aus seinem Blog "Post von Horn". Wir bedanken uns für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe an dieser Stelle.