Corona blüht. Deutschland verdorrt. Zum vierten Mal zwingt das Virus die Republik zu Boden. Diesmal droht sie den Kampf zu verlieren. Der Grund liegt auf der Hand. Die Pandemie wird nicht sachgerecht, sondern politisch und ideologisch bekämpft. Das Land leidet zweifach – unter dem Virus und den Ideologen, vor allem unter denen der FDP.

Das Gemeinwohl gefährdet

Mit der Parole, das Recht des Einzelnen auf freie Entscheidung zu schützen, verschafft die FDP dem Virus ideale Bedingungen, sich auszubreiten. Der dramatische Anstieg der Corona-Fälle belegt: Wer sich die Freiheit nimmt, für die sich die FDP in der Pandemie so nachdrücklich einsetzt, und sich gegen die Impfung entscheidet, gefährdet das Wohl anderer Individuen und das Gemeinwohl.

Die Schäden, die impffähige Impfverweigerer verursacht haben, seit Impfstoffe verfügbar sind, treffen die übrigen Menschen nicht nur für Wochen und Monate. Die Folgen werden über Jahrzehnte spürbar sein und selbst dann noch das Leben der Kinder und Enkel beschränken, wenn es die FDP womöglich gar nicht mehr gibt.

Impffähige Impfverweigerer nehmen in Kauf, Kinder anzustecken, die nicht geimpft werden können, weil es für sie keinen Impfstoff gibt. Die Impfverweigerer erzwingen, dass Lebenskreis der Kinder zu ihrem Schutz eingeengt werden muss, dass die Entwicklung der Kinder gehemmt wird und das Leben ihrer Familien aus den Fugen gerät.
Von Impfverweigerern angesteckt
Impffähige Impfverweigerer nehmen auch in Kauf, Geimpfte anzustecken, deren Impfschutz zu schwächen, die Kosten der Pandemie für die Wirtschaft und das Gesundheitswesen zu steigern und Einnahmen zu verringern, die zur Entwicklung des Gemeinwesens benötigt werden.

Impffähige Impfverweigerer tragen dazu bei, dass mehr Menschen sterben müssen, als sterben müssten, dass mehr Menschen physisch, psychisch und finanziell unter Corona zu leiden haben, als leiden müssten, dass die Geimpften die Kosten zu tragen haben, die anfallen, wenn Impfverweigerer erkranken und andere anstecken.

Impffähige Impfverweigerer nehmen in Kauf, sich und andere zu schädigen. Muss der Staat zulassen, rechtfertigen und begünstigen, dass Menschen sich und andere zugrunde richten?
Abstruse Folgen der Freiheit
In Zeiten der Pandemie hat der Einsatz der FDP für individuelle Freiheit abstruse Folgen. Geimpfte, die um ihren Schutz bangen müssen, werden eindringlich ermahnt, Ungeimpfte nicht unter Druck zu setzen, sondern deren Verhalten zu akzeptieren.

Beim jüngsten Fußballländerspiel verlangte der DFB, dass sich im Stadion nur Zuschauer aufhielten, die geimpft oder genesen waren. Die Spieler aber dürfen ihrem Beruf ungeimpft nachgehen, obwohl er es ihnen unmöglich macht, die Corona-Regeln einzuhalten.

An den Spieltagen der Bundesliga sind in den Stadien und vor den Bildschirmen Millionen Zeuge, wie auf dem Rasen gegen die Corona-Schutzregeln verstoßen wird. Den Zuschauern im Stadion Schutz abzuverlangen, ihn den Spielern aber zu ersparen: Der Widersinn ist juristisch zementiert. Auf den Rängen gilt das Infektionsschutzgesetz, auf dem Rasen das Arbeitsrecht.

Den Schutzlosen schaden

Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo sie die Freiheit anderer einschränkt, bedroht und verletzt. Alle Menschen sind zu schützen, Kinder, Alte, Kranke und Schwache aber in besonderem Maße, weil sie schutzlos sind. Impffähigen Impfverweigerern aber lässt man großzügig die Freiheit, Kindern, Alten, Kranken und Schwachen schwer zu schaden.

Deutschland fällt es schwer, aus Schaden klug zu werden. Es leuchtet der Politik gerade noch ein, die Menschen an der Ahr nicht viermal in zwei Jahren schwerem Hochwasser auszusetzen. Was man dem Wasser abspricht, wird der Coronaflut ermöglicht, mit der Rücksicht auf die Freiheit der Impfverweigerer.

Schon die erste Welle der Pandemie hätte einen konsequenten Ausgleich zwischen individueller Freiheit und Gemeinwohl erfordert. Dass Deutschland heute die vierte Welle erlebt, zeigt: Die Politik und die Gesellschaft haben es bis heute nicht geschafft, den Ausgleich zustande zu bringen.

Ideologisch erstarrt

Die steigenden Zahlen der Toten, der Verletzten und der finanziellen Schäden belegen: Die Bemühungen, die Freiheit des Einzelnen zu schützen, fielen zum Nachteil zahlloser Individuen und des Gemeinwohls aus. Die Freiheit des Einzelnen richtet sich längst gegen ihn. Das Virus dezimiert die Impfverweigerer, die ihre individuelle Freiheit wahrnehmen, und verstopft die Hospitäler für Menschen mit anderen Krankheiten.

Dem Ausgleich steht vieles im Weg: Faulheit, Dummheit, Unwissen, Unentschlossenheit, Gleichgültigkeit, Überheblichkeit, Zynismus, Verantwortungslosigkeit, Feigheit und Eigensucht. An der Spitze auch die FDP.

Sie wirft anderen Parteien gerne ideologisch gesteuertes Verhalten vor. In der Coronakrise ist sie selbst ideologisch erstarrt. Die Realität ist gerade dabei, die Ideologie der FDP zu überrollen. Ihr Kampfruf „Privat vor Staat“ mag für ruhiges Wasser taugen. Im Sturm ist er so viel wert wie Pappe gegen Hochwasser.
In die Sinnkrise geraten
Schon während der Banken- und Finanzkrise erwies sich diese Parole der FDP als eine flüchtige Phrase. Damals wurde sehr schnell der Ruf nach dem Staat laut. Ohne seine Finanz- und Ordnungsmittel wären die Freiheit des Individuums und das Wohl des Gemeinwesens rasch am Ende gewesen.

Die Hilfe des Staates erfüllte damals ihre Aufgabe. Die FDP geriet in eine Sinnkrise. Die Realität hatte der Partei die Grundlage entzogen. Zuerst war ihre Ideologie von der Realität perforiert worden. Dann nahmen die Bürger der Partei bei der Wahl 2013 die Mandate fort. Die FDP flog aus dem Bundestag. Sie fiel ihrer Ideologie zum Opfer.

Die Partei schadete nicht nur sich. Auch die CDU bekam ihren Teil ab. Die schwarz-gelbe NRW-Koalition unter Rüttgers hatte 2005 „Privat von Staat“ zur Grundlage ihrer Politik gemacht. Die Parole wurde bald zur Last. Viele Wähler gewannen den Eindruck, „Privat vor Staat“ blende ihre Bedürfnisse aus. 2010 war Schwarz-gelb am Ende.
Als unsicherer Kantonist im Verruf
Laschet brachte 2017 eine Neuauflage zustande, mit der Mehrheit von nur einer Stimme. Um die Koalition über die Corona-Krise zu bringen, pendelte er unablässig zwischen dem Recht des Einzelnen, auf das die FDP pocht, und dem Interesse des Gemeinwesens, das CSU-Chef Söder thematisierte.

Laschets Schwanken hatte für ihn fatale Folgen. Er geriet in Verruf, ein unsicherer Kantonist zu sein. Ihm wurde angelastet, dem sachgerechten Kampf gegen die Pandemie auszuweichen, um der FDP-Ideologie „Privat vor Staat“ Rechnung zu tragen und seine Koalition mit ihrer knappen Mehrheit nicht zu gefährden.

Als CDU-Vorsitzender wollte Laschet nicht nur den breiten Bedürfnissen der Volkspartei gerecht werden, sondern gleichzeitig auch den viel engeren der Klientelpartei FDP. Dieser Spagat ging nicht gut. Der Unmut über die Pandemie-Politik wuchs in NRW, vor allem in jenem zentralen Bereich der Landespolitik, in dem die FDP das Sagen hat: in der Schulpolitik.

Die Koalition spalten

FDP-Schulministerin Gebauer wirkt auf viele, die von ihrer Schulpolitik betroffen sind, wie das rote Tuch auf den Stier. Dennoch steht die FDP in Umfragen gut da. Sie punktet bei ihrer Klientel, während die CDU den Schaden zu tragen hat. Ihre Umfragewerte sind stark gesunken und mit ihnen die der schwarz-gelben Koalition.

Ob sich die Lage in den sechs Monaten bis zur NRW-Wahl für Laschets Nachfolger Wüst noch ändern kann, ist nicht abzusehen. Die NRW-CDU ist in den Corona-Wirren der Schulpolitik personell und inhaltlich abgetaucht. Wüsts Chancen, die schwarz-gelbe Koalition im Mai 2023 zu verteidigen, stehen schlecht, zumal es die NRW-SPD darauf anlegt, die Koalition über die Pandemiepolitik zu spalten.

Die Schulpolitik birgt in NRW seit jeher Potenzial für einen Machtwechsel. 2017 trug sie dazu bei, Rot-grün in die Opposition zu schicken. Damals lag sie in der Hand der Grünen. Schon sie brachten die Schulpolitik in Verruf. Damals traf der Schaden ebenfalls den großen Koalitionspartner, die SPD.
Als Koalitionpartnerin gebraucht
Heute, unter den aufreibenden Bedingungen der Pandemie und der verunsichernden Vielfalt der politischen und ideologischen Reaktionen auf sie, gewinnen Differenzen in den einzelnen Politikressorts rasch an Brisanz. Diese Entwicklung kann sich verstärken, wenn die Pandemie länger anhält.

Deutschland mit seinen 17 Regierungen und 17 Parlamenten droht an ihr zu scheitern. Das Land leidet nicht nur an seinen Krisen, sondern auch unter der Trägheit seiner komplexen Strukturen, die den Kampf gegen die Krisen erschweren. In diesem Geflecht findet die FDP viele Ansatzpunkte, ihr überschaubares Klientel mit seinen spezifischen Interessen wirkungsvoll anzusprechen.

Es empfindet den Staat schon in normalen Zeiten als Bremser und Blockierer. Es braucht seine Hilfe nicht, nimmt sie jedoch gerne in Anspruch. Die FDP zeigte sich in der Diskussion um den Lockdown als Garantin der Freiheit. Ernsthafte Angriffe anderer Parteien auf ihre Pandemie-Position muss sie nicht fürchten, weil sie von CDU, SPD und Grünen hier und da als Koalitionspartnerin gebraucht wird.

Zum Opfer gemacht

Rührend beschwören FDP-Politiker heute jene Bürger, die so verantwortungsvoll waren und sich zweimal Impfen ließen, sich nun doch bitte zum dritten Mal impfen zu lassen. Die FDP erweckt den Eindruck, es wäre Sache der Geimpften, die Freiheit der Impfverweigerer zu schützen und sie davor zu bewahren, angesteckt zu werden.

Was würde die FDP wohl sagen, wenn die Geimpften vor den Abgeordnetenbüros, Parteizentralen und Parlamenten aufmarschierten und damit drohten, jene zu boykottieren, die Impfverweigerern die Türen öffnen und ihnen ermöglichen, ihre Freiheit zu nutzen und ungeimpft zu bleiben?

Corona konnte sich leicht verbreiten, weil es zu Beginn der Pandemie keinen Impfstoff gab und er später nur unzureichend beschafft wurde. Verbreitet wurde das Virus zunächst von impfwilligen Ungeimpften, dann von impffähigen Impfverweigerern, die sich auf das Recht zur freien Entscheidung beriefen. Zu deren Opfern zählen inzwischen auch viele Geimpfte mit Impfdurchbrüchen.
Nahe bei Rechtsextremisten
Die besten Verbündeten des Virus waren und sind bis heute die impffähigen Impfverweigerer. Man lässt ihnen sogar seit Monaten die Freiheit, Schwache und Geimpfte zu infizieren, den Impfschutz zu schwächen und Impfdurchbrüche zu bewirken.

Ein Drittel der Impffähigen, rund 15 Millionen, sind noch nicht geimpft. Viele Impfverweigerer finden sich vor allem in jenen Regionen, die als hinterwäldlerisch gelten: in Ostdeutschland und im Osten Bayerns. Lange scheute sich die Politik, in diesen Regionen und andernorts Ungeimpfte unter Druck zu setzen, wohl aus Furcht, die Wähler dort könnten noch weiter nach rechts driften.

Die FDP hat schon lange mit dem Verdacht zu kämpfen, sie suche die Unterstützung der Impfverweigerer. Wie nahe Teile der FDP bei den Rechtsradikalen stehen, zeigte sich 2020 in Thüringen, als sich ein FDP-Landtagsabgeordneter von der rechtsextremen AfD zum Ministerpräsidenten machen ließ.
Die Pandemie nachdrücklicher bekämpft
Die vierte Coronawelle nimmt ein Ausmaß an, das der administrativen, medizinischen und politischen Kontrolle der deutschen Regierungen, Parlamente und Verwaltungen zu entgleiten droht. Die Krise verschärft sich von Tag zu Tag. Die 17 deutschen Regierungen erscheinen hilflos.

Der Glaube, Deutschland habe sich in Europa zu einem Hort der Vernunft entwickelt, erweist sich als Irrtum. Südeuropäische Länder, die als leichtfertig verschrien sind, hatten wegen ihrer intensiven Familienbeziehungen und ihrer kontaktfreudigen Lebensweise unter dem Virus viel stärker zu leiden. Sie bekämpfen die Pandemie nun viel nachdrücklicher.

Die Impfquoten liegen in Portugal, Malta, Spanien und Italien deutlich höher als in Deutschland. Das gilt auch für Island, Dänemark, Irland, Belgien, die Niederlande, Finnland und Norwegen. In vielen Ländern sind die Schutzmaßnahmen rigoroser als in Deutschland. Besonders entschieden geht Italiens Regierungschef Draghi vor. Er gehört keiner Partei an.
Unter der Pandemie begraben
In Deutschland ist die vierte Welle der Pandemie drauf und dran, die FDP mit ihrer Forderung, die Freiheit des Einzelnen zu achten, krachend unter sich zu begraben. Je höher die Inzidenz ausfällt, desto schwerer fällt es der FDP, die Freiheit des Einzelnen mit dem Gemeinwohl in Einklang zu bringen.

Vier Jahre nicht im Bundestag, dann vier Jahre in der Opposition: Das hinterlässt Spuren. Die FDP sucht nach einem Profil, das ihr hilft, sich gegen die Konkurrenz zu behaupten. Zeitweise drohte sie erneut aus dem Parlament zu fallen, während die Grünen einen Aufschwung erlebten und sich kurzzeitig zur Volkspartei aufblähten.

Die FDP hat demonstriert, dass sie nicht um jeden Preis mitregieren will, als sie 2018 aus den Verhandlungen zu einer Jamaikakoalition ausstieg. Die großen Parteien wissen, wohin es führen kann, wenn die FDP in einer Koalition den Ton angibt und die Richtung bestimmt.
Die Sprache verschlagen
Die NRW-Regierung Rüttgers geriet in ihrer Endphase in den Sog der Proteste gegen die FDP-Politik und dann in die Opposition. Die SPD, die 2017 im Bund in die Opposition strebte, wurde vom Koalitionsverzicht der FDP 2018 gezwungen, in die Große Koalition zurückzukehren. Bei den aktuellen Koalitionsverhandlungen sorgte die FDP dafür, dass die SPD wie die Grünen ihre Wahlgeschenke weitgehend einpacken musste.

Der Druck der FDP in den Verhandlungen ist so groß, dass die grüne Vorsitzende Baerbock hilflos die Unterstützer ihrer Partei aufrief, gegen die FDP zu mobilisieren. Der SPD-Kanzlerkandidat Scholz nahm im Wahlkampf gerne die Attitüde des Kümmerers ein. Penetrant gab er sogar vor, sich um Dinge zu kümmern, um die er sich kaum kümmern konnte, weil sie nicht in seinem Einfluss- und Wirkungsbereich lagen.

Seit Tagen spitzt sich die Pandemie erneut zu. Die Krankenversorgung steht vor dem Kollaps. Doch vom künftigen Kanzler Scholz war lange nichts zu sehen und zu hören. Seit er mit der FDP über eine Ampelkoalition verhandelt, wirkt der Kümmerer stark verkümmert. Erst als viele Medien sein Schweigen scharf kritisierten, brach er es. Ein Grund für seinen Mangel an Präsenz lieferte er nicht. Vermutlich hat ihm die Pandemiestrategie seines künftigen Koalitionspartners FDP mächtig die Sprache verschlagen.

Über Ulrich Horn (Gastautor):

Begonnen hat Ulrich Horn in den 70er Jahren als freier Mitarbeiter in verschiedenen Lokalredaktionen des Ruhrgebiets. Von 1989 bis 2003 war er als Landeskorrespondent der WAZ in Düsseldorf. Bis 2008 war er dann als politischer Reporter in der Essener WAZ-Zentralredaktion tätig. Dort hat er schon in den 80er Jahren als Redakteur für Innenpolitik gearbeitet. 2009 ist er aus gesundheitlichen Gründen ausgeschieden. Seine Beiträge im Extradienst sind Crossposts aus seinem Blog "Post von Horn". Wir bedanken uns für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe an dieser Stelle.