von Stephan Pühringer, Karl M. Beyer, Dominik Kronberger und Jupp Legrand (Vorwort)
Eine Analyse der Wirtschafts- und Sozialpolitik der AfD
Vorwort
„Überall da, wo wir den Eindruck haben, dass der kleine Mann ungerecht behandelt wird, wollen wir uns dafür einsetzen, dass er gerecht behandelt wird“ – mit diesen Worten leitete der damalige AfD-Parteivize und heutige Ehrenvorsitzende Alexander Gauland 2016 den Versuch ein, die damals noch junge AfD von ihrem Image als neoliberale „Professoren-Partei“ zu befreien und sie als Kämpferin für soziale Gerechtigkeit zu präsentieren. „Wir müssen versuchen, soviel soziale Gerechtigkeit wie möglich umzusetzen. Die AfD darf nicht die Menschen am unteren Ende der sozialen Skala allein lassen“, gab Gauland im selben Jahr in einem Interview die Richtung vor. Viele ParteikollegInnen, vom ehemaligen SPDler und heutigen AfD-Europaabgeordneten Guido Reil bis hin zum Thüringer Parteichef Björn Höcke, stoßen seither regelmäßig ins selbe Horn. Folgenlos bleibt das nicht. Zwar zeigen die Wahlergebnisse im Superwahljahr 2021, dass der Aufwärtstrend der Partei erstmal gestoppt ist – bei allen Wahlen verlor die AfD an Zuspruch –, allerdings bleiben die Wahlergebnisse unter ArbeiterInnen, besonders männlichen, sehr hoch. Nach Auswertungen von Statista wurde die AfD ei der Bundestagswahl in dieser Gruppe hinter der SPD zweitstärkste Kraft; auch gewerkschaftlich organisierte ArbeitnehmerInnen wählen die RechtspopulistInnen regelmäßig häufiger als die Durchschnittsbevölkerung.
Aber steht hinter der sozialen Rhetorik tatsächlich eine politische Praxis, die die Interessen von ArbeitnehmerInnen und von sozioökonomisch benachteiligten Bevölkerungsgruppen vertritt? Auf welche wirtschafts- und sozialpolitischen Traditionen beruft sich die AfD in der täglichen parlamentarischen Arbeit des Bundestages und seiner Fachausschüsse, fernab von Kameras und Mikrofonen, Podien und Selbstdarstellungsmöglichkeiten auf Social-Media? Die Otto Brenner Stiftung wollte es genauer wissen und ist deshalb dankbar, ein Forscherteam des Instituts für die Gesamtanalyse der Wirtschaft an der Johannes Kepler Universität Linz (Österreich) für die Beantwortung dieser Fragestellungen gewonnen zu haben. Die profilierten Sozialwissenschaftler unter Leitung von Stephan Pühringer legen eine materialreiche Analyse der wirtschafts- und sozialpolitischen Anträge, Gesetzesentwürfe und Redebeiträge der AfD-Bundestagsabgeordneten – vom Einzug in den Bundestag 2017 bis Ende 2020 – sowie der entsprechenden programmatischen Positionierungen der RechtspopulistInnen in ihren Partei- und Wahlprogrammen vor.
Die Ergebnisse sind bemerkenswert eindeutig. Hinsichtlich ihrer allgemeinen wirtschafts- sowie ihrer konkreten handels- und energiepolitischen Ausrichtung positioniert sich die AfD eindeutig neo- und ordoliberal. Auch ihre Kritik an Euro und Europäischer Zentralbank greift häufig auf die Vokabeln dieser Wirtschaftsschulen zurück: Die „Marktwirtschaft“ gilt ihr als „natürliche“ und „nachhaltige Wirtschaftsordnung“, freier Handel, Konkurrenz, Entbürokratisierung und Wettbewerbsfähigkeit gelten als Lösungen (fast) aller Probleme. Staatliche Regulierungen oder gar Eingriffe in Marktprozesse werden als „verzerrend“ und „manipulierend“ weitgehend abgelehnt, die Selbstregulierungskräfte der Märkte hofiert. Lediglich auf dem Feld der Arbeitsmarkt- und Rentenpolitik sowie in ihrer Haltung zum Wohlfahrtsstaat weicht die Partei hin und wieder von ihrer strikt neoliberalen Ausrichtung ab. „Soziale“ Forderungen, wie die nach guter Arbeit und höheren Löhnen, werden durch nativistische und populistisch-rechtsradikale Gesellschaftsleistungsansprüche etwa sollen nur „für Einheimische“ gelten – und bleiben in übergeordnete neoliberale Forderungen nach “Leistungsgerechtigkeit“ und „Eigenverantwortung“ eingeordnet. Diese ideologischen Traditionslinien schlagen sich im Abstimmungsverhalten der Abgeordneten nieder: Bei den im Untersuchungszeitraum im Bundestag zur Abstimmung vorgelegten Anträgen, die sich mit der grundlegenden Gestaltung des Sozialstaates beschäftigten, stimmten die AfD-Abgeordneten in 75 Prozent der Fälle wie die Abgeordneten der FDP – fast immer gegen Anträge, die einen Erhalt oder Ausbau sozialstaatlicher Leistungen forderten und fast immer für solche, die sozialstaatliche Maßnahmen einschränken wollten.
Die soziale Rhetorik, das zeigen die Ergebnisse der Untersuchung deutlich, sind die oberflächliche Fassade einer Partei, die in ihren wirtschaftspolitischen Vorstellungen fest in neo- und ordoliberale Denktraditionen eingebunden bleibt. In ihrer parlamentarischen Praxis argumentiert, streitet und – nicht zuletzt – stimmt sie weitgehend gegen die Interessen der arbeitenden Bevölkerung in Deutschland. Stiftung und Autoren hoffen, dass unsere Studie dabei hilft aufzuzeigen, wie die von prominenten Gesichtern der Partei offensiv nach außen getragene populistische Sozialrhetorik sehr häufig den neoliberalen wirtschaftspolitischen Kern der AfD vernebelt. „Menschen am unteren Ende der sozialen Skala“ sind nicht nur durch die rechtsradikal-autoritären Gesellschaftsvorstellungen der AfD bedroht, sondern können auch ökonomisch und sozialpolitisch von dieser Partei nichts erwarten – am allerwenigsten ein glaubhaftes Eintreten für soziale Gerechtigkeit und ihre Interessen.
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6 Fazit: Soziale Rhetorik, neoliberale Praxis
Zentrales Ziel dieser Studie war es, die grundlegenden sozioökonomischen Narrative der AfD, so wie sie sich in den wirtschafts- und sozialpolitischen Argumentationen und Positionierungen der Partei im Deutschen Bundestagwiederfinden, aufzuzeigen und zu analysieren. Dabei wurden zwei sozioökonomische Narrative – ordo-/neoliberal und interventionistisch-sozial – unterschieden. Unter Beachtung eines dritten, gesellschaftspolitischen Narratives – populistisch-rechtsradikal – konnte die argumentative Verknüpfung zwischen den jeweiligen Narrativen nachgezeichnet und potentielle Widersprüchlichkeiten aufgezeigt werden. Einerseits sollte die AfD ideologisch eingeordnet, andererseits auch ein eventueller programmatischer Wandel der AfD seit ihrer Gründung sowie ein etwaiges internes Spannungsverhältnis zwischen oberflächlicher Rhetorik und parlamentarischer Praxis beleuchtet werden.
Wir haben dabei einen diskursanalytischen Ansatz gewählt und unsere Analyse sowohl auf grundlegende programmatische Texte als auch auf die politische Praxis der AfD im Deutschen Bundestag gestützt. Für letztere wurde eine breite Auswahl an sozial- und wirtschaftspolitischen Anträgen und Gesetzesentwürfen sowie an inhaltlich korrespondierenden Redebeiträgen der AfD-Bundestagsfraktion zusammengestellt und analysiert. Ergänzend haben wir das Abstimmungsverhalten der AfD-Fraktion zu Anträgen, die die grundsätzliche Gestaltung des Wohlfahrtsstaates behandeln, in die Analyse mit einbezogen.
Wie viele andere populistisch-rechtsradikale Parteien in Europa und darüber hinaus profitiert die AfD von einem allgemeinen Aufschwung populistischer Parteien. Diese haben es im Nachgang der Wirtschafts- und Finanzkrise 2007/08 und vor allem im Zuge der Migrationsbewegungen 2015 geschafft, ein – oberflächlich stimmiges – Bild der kollektiven sozialen Abstiegsangst der westlichen unteren Mittelschicht zu zeichnen. Vor allem so genannten ModernisierungsverliererInnen wird auf Basis eines populistischen Narratives der „ehrlichen“, „fleißigen“ und „hart arbeitenden“ Bevölkerung, die von „korrupten politischen Eliten“, dem „Establishment“ oder „AusländerInnen“ in ihrer Existenz gefährdet seien, das Gefühl vermittelt, dass traditionelle politische Parteien ihre legitimen Anliegen verraten würden. Die Benachteiligung dieser Bevölkerungsgruppen wird von populistisch-rechtsradikalen Parteien allerdings mehrheitlich nicht als sozioökonomischer Verteilungskonflikt oder als Konsequenz erhöhter Renditeerwartungen aufgrund einer zunehmend internationalisierten Arbeitsteilung verstanden. Ebenso wenig wird der steigende Konkurrenzdruck durch Flexibilisierungen am Arbeitsmarkt oder eine zurückhaltende Lohnpolitik, gerade bei unteren EinkommensbezieherInnen, als Ursache für den erlebten oder befürchteten sozialen Abstieg breiter Bevölkerungsschichten thematisiert. Vielmehr wird die nationale Identität der arbeitenden Menschen betont und auf dieser Basis der Anspruch auf soziale Teilhabe und Absicherung nur für die „einheimische“ Bevölkerung formuliert. Dadurch verkommt der Solidaritätsanspruch dieser Parteien zu einer Forderung nach „exklusiver Solidarität“ (Becker et al. 2018; Flecker et al. 2018).
Diese Ausrichtung auf eine Politik der „exklusiven Solidarität“ spiegelt sich auch in vielen Bundestagsreden von AfD-Abgeordneten wider. Zugleich positioniert sich die AfD in ihren programmatischen Grundlagentexten und in ihrer parlamentarischen Praxis sehr deutlich ordo- bzw. neoliberal. Ist diese Positionierung der Partei zum Zeitpunkt ihrer Gründung noch dadurch gut zu erklären, dass die relevanten AkteurInnen aus dem bürgerlich-konservativen Ökonomenmilieu stammten, ist die klare Kontinuität ordo-/neoliberaler sozioökonomischer Narrative bis heute angesichts der häufigen „kleinen Leute“-Rhetorik der AfD doch überraschend.
Auch im neuen Wahlprogramm der AfD 2021 spiegeln sich zu weiten Teilen ordo- bzw. neoliberale sozioökonomische Narrative wider. Die Häufigkeit mit der von „Wettbewerbsfähigkeit“, „Leistungsgerechtigkeit“ und „Entbürokratisierung“ gesprochen wird übertrifft Forderungen nach „sozialen“ Maßnahmen bei Weitem. Des Weiteren ist die Reduzierung von Steuerlast und staatlicher Regulationen ein fester Bestandteil der Partei- Programmatik, welche sich ausnahmslos in allen Politikbereichen finden lässt. Die Summe der programmatischen wirtschaftspolitischen Maßnahmen der AfD – von dieser als „Blue Deal“ (AfD 2021, S. 42) bezeichnet – kann als weitgehend ordo-/neoliberale Reformagenda bezeichnet werden.
Festzuhalten ist weiterhin, dass all jene (ökonomischen) Kernthemen, die die Partei zu Beginn prägten, bis heute fester Bestandteil der Programmatik bleiben – wenn auch geringfügig abgeändert und mit populistisch-rechtsradikalen Narrativen versehen. Zwar werden in einigen Politikfeldern (insbesondere in der Sozial- und Rentenpolitik) durchaus interventionistisch-soziale Positionierungen der AfD offenbar, allerdings sind diese meist durch ordo-/neoliberale Forderungen nach Leistungsgerechtigkeit ergänzt oder nativistisch überformt, das heißt nur für „einheimische Deutsche“ vorgesehen. Progressive Forderungen nach einem Ausbau oder einer Sicherung des Wohlfahrtsstaates sowie eine aktive Umverteilungspolitik sind hingegen kein programmatischen Anliegen der AfD. Den weitaus größeren Teil des Programms nehmen ordo-/neoliberale Vorstellungen im Sinne eines freien Marktes mit minimaler staatlicher Einmischung ein.
Diese ordo-/neoliberale programmatische Ausrichtung der AfD übersetzt sich auch in der Argumentation der entsprechenden parlamentarischen Praxis. Zwar sind – wie beschrieben und für populistisch-eechtsradikale Parteien typisch – wirtschafts- und sozialpolitische Äußerungen der AfD auch in Redebeiträgen und Anträgen im Bundestag oft nativistisch überformt und es kommt der populistisch-rechtsradikalen Grundhaltung der AfD auch in diesen Politikfeldern eine wichtige Bedeutung zu. Allerdings ist die Position der AfD zur Marktwirtschaft und zu marktwirtschaftlichen Regeln und Prinzipien insgesamt eindeutig: Wenn aus Sicht der AfD das ungehinderte Wirken des Marktmechanismus durch politische Entschlüsse und staatliche Eingriffe bedroht ist, argumentiert die AfD fast ausnahmslos zugunsten des Marktprinzips. In ihren Anträgen und Reden skizziert die AfD-Bundestagsfraktion dafür einen klaren Kontrast zwischen Markt- und Planwirtschaft. Die Marktwirtschaft wird hierbei rhetorisch mit Attributen wie „natürlich“, „nachhaltig“ und „solide“ versehen, wohingegen der AfD die Planwirtschaft als „künstlich“, „unnatürlich“, „verzerrend“, „manipulierend“ und „rein ideologisch“ gilt. Zugleich steht die Marktwirtschaft für die AfD für Privateigentum, Wettbewerb, Eigenverantwortung, Freiheit und ökonomische Vernunft, Planwirtschaft hingegen für ökonomische Unvernunft, Fehlanreize und Fehlallokation, Enteignung, Umverteilung, Vorschriften, Bürokratie, staatliche Gängelung und Verschwendung. Daher tritt die Partei – mit Ausnahmen von besonderen Krisensituationen – gegen staatliche Interventionen, einen Ausbau von Transferleistungen und sozioökonomische Umverteilung ein. Den idealtypischen, ordoliberalen Vorstellungen von Wirtschaft(spolitik) folgend werden wirtschaftspolitische Aktivitäten des Staates zwar nicht grundsätzlich abgelehnt, allerdings auf sehr wenige Aufgaben beschränkt. Insgesamt zeigt die AfD große Zustimmung zu einer Haltung, die dem Staat lediglich zugesteht die Rahmenbedingungen für eine effiziente, wettbewerbsorientierte Marktwirtschaft zu schaffen, dabei aber keine eigenständige wirtschafts- und sozialpolitische Agenda zu verfolgen. Sie macht sie sich das ordoliberale Motto Walter Euckens zu eigen, wonach eine gute Wirtschaftspolitik sozialpolitische Aktivitäten ersetzen kann und dieser vorzuziehen ist.
Durchgängig verfolgt die AfD eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, die sich insbesondere nach den Interessen der (inländischen) Wirtschaftstreibenden richtet. Diese Politik ist klar anti-europäisch ausgerichtet und nimmt hinsichtlich der Arbeitsmarktpolitik oder in Fragen der Ausgestaltung des Sozialstaates mehrheitlich die Position der ArbeitgeberInnen ein. Zwar finden sich nur selten explizite Forderungen nach einem Rückbau sozialstaatlicher Leistungen und einer Verschlechterung von Leistungsbezügen und es wird in den Politikbereichen Arbeitsmarkt, Sozialpolitik und Renten von einzelnen AfD-Abgeordneten teilweise auch interventionistisch-sozial argumentiert. Eine aktive Ausweitung sozialer Sicherungsmaßnahmen oder eine Erhöhung des Mindestlohnes wird in der parlamentarischen Praxis der Anträge und Gesetzesentwürfe hingegen kaum vertreten, im Gegenteil wird der Mindestlohn mit Ausnahme der letzten Wahlprogrammatik weitgehend als unzulässiger Markteingriff abgelehnt. Rhetorisch betont die AfD oft Notsituationen von (einheimischen) unteren Einkommensschichten, Armut und Armutsgefährdung sieht die Partei durchgängig jedoch als Folge fehlgeleiteter Wirtschaftspolitik an. Sozialleistungen zu erhöhen ist in den Augen der Partei folglich der falsche Weg.
Dieser Beitrag ist ein Auszug (Vorwort und Fazit) des OBS-Arbeitspapiers 52 “Soziale Rhetorik, neoliberale Praxis – Eine Analyse der Wirtschafts- und Sozialpolitik der AfD”, hier im vollen Wortlaut mit Schaubildern, Tabellen, Literaturverzeichnis etc.
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