Kann ein Bündnis besser sein als seine Bestandteile? Immerhin haben SPD, Grüne und FDP es geschafft, eine Koalition jenseits der CDU/CSU zustande zu bringen. Das ist eine politische Leistung, die für sich genommen schon ein Erfolg für die drei Beteiligten ist, wenngleich die Alternativlosigkeit ein entscheidendes Moment gewesen sein dürfte, denn das Bemühen von Armin Laschet, eine Jamaika-Koalition als Option offen zu halten, ist rasch den orientierungslosen Machtkämpfen in den Unionsparteien zum Opfer gefallen.
Die Ampelkoalition ist eine Folge der Erosion der ehemaligen Volksparteien, die sich über Jahrzehnte in der alten Bundesrepublik etabliert hatten. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament am 26. Mai 2019 erreichten CDU/CSU und SPD zusammen nur 44,7 Prozent der abgegebenen Stimmen. Damit kamen die Union und die SPD zusammen zum ersten Mal bei einer bundesweiten Wahl nicht mehr auf 50 Prozent. Die daraus folgenden Dreierbündnisse unter Ausschluss der AfD sind jedoch eher eine Folge von Wahlarithmetik als von inhaltlicher Übereinstimmung. Als es nach der Bundestagswahl am 26. September 2021 nicht zu rot-rot-grün reichte, reduzierte sich die machtpolitische Option der SPD auf das Zustandekommen einer Ampelkoalition, was den Grünen Jamaika erspARTE und die FDP in eine Schlüsselrolle beförderte.

Die SPD tut zwar immer noch so, als sei sie eine Volkspartei und habe die Bundestagswahl gewonnen. Dabei übersieht sie, dass ihr relativer Erfolg einer stabilisierten AfD und einem jämmerlichen Zustand der CDU zu verdanken ist. Und die Grünen haben ihre Latzhosen endgültig in die Altkleidersammlung gegeben.

Kurt Kister stellt in der Süddeutschen vom 7. Dezember fest, der gesellschaftliche Konsens sei brüchig wie nie zuvor, ohne anzudeuten, worin dieser Konsens lag oder liegt.
Das Wohlstandsversprechen, das Kister gemeint haben könnte, basiert auf der Annahme ewigen Wachstums. Diese Annahme ist jedoch eine fragile Rahmenbedingung unserer Demokratie, die spätestens seit der spürbaren Zuspitzung der Klimakrise und der erkennbaren globalen Migration von immer mehr Menschen einfach nicht mehr als sicher angesehen wird. Welche Antworten eine aufgeklärte Demokratie auf die nicht zu übersehenden Herausforderungen entwickelt, wird entscheidend für die Lebensbedingungen künftiger Generationen sein. Bei der Lektüre des Koalitionsvertrags drängt sich der Eindruck auf, es komme vor allem darauf an, wie schnell Deutschland sich zu einem einzigen Silicon Valley entwickelt und Staat, Gesellschaft und Wirtschaft von Kopf bis Fuß digitalisiert werden. Liest man Sätze wie
„Auf Basis einer Multi-Cloud Strategie und offener Schnittstellen sowie strenger Sicherheits- und Transparenzvorgaben bauen wir eine Cloud der öffentlichen Verwaltung auf.“
oder
„Die Potenziale von Daten für alle heben wir, indem wir den Aufbau von Dateninfrastrukturen unterstützen und Instrumente wie Datentreuhänder, Datendrehscheiben und Datenspenden gemeinsam mit Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft auf den Weg bringen.“
oder
„Investitionen in Künstliche Intelligenz (KI), Quantentechnologien, Cybersicherheit, Distributed-Ledger-Technologie (DLT; die Blockchain, eine der Grundlagen für hochspekiulative Kryptowährungen, ist eine der bekanntesten Distributed-Ledger-Techniken, Anm. d. Autors), Robotik und weitere Zukunftstechnologien stärken wir messbar . . .“
dürften sich nicht nur Kulturpessimisten an die „Schöne neue Welt“ von Aldous Huxley erinnert fühlen.

Julian Nida Rümelin fordert von den an der Ampelkoalition beteiligten Parteien im Gespräch mit Gabor Steingart (Morning Briefing vom 4. Dez. 2021) eine „gedankliche Grundierung“ ihres Tuns. Wer sich nur dem Alltagspragmatismus hingebe, werde in der „Entkernung“ landen, also dort, wo sich die Union heute befinde.

Die Suche nach Schnittmengen hat in dieser Situation bei den Verhandlungen zur Bildung der Ampelkoalition zu einer ebenso umfangreichen wie merkwürdigen Mischung aus Allgemeinplätzen und höchst konkreten Einzelforderungen geführt, die erahnen lassen, dass die Beteiligten höchst unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was unsere Gesellschaft im Innersten zusammenhält.

Das „Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ hat gleichwohl eine Chance, die von Nida Rümelin befürchtete Entkernung zu vermeiden. Dabei wird es gar nicht so sehr auf den Kanzler und seine Ministerriege ankommen, sondern auf das gesellschaftliche Umfeld und wie die Parteien darauf reagieren. Die FDP hat auch seinerzeit auch erst 2 Jahre nach Bildung der ersten sozial-liberalen Koalition ihre Freiburger Thesen beschlossen und sich die programmatische Fundierung ihrer neuen Ausrichtung geschaffen. Ähnliches könnte auch jetzt geschehen. Der Wille zur Erneuerung scheint in allen drei Parteien vorhanden zu sein. Das Mantra der Geschlossenheit müsste dafür allerdings zugunsten einer offenen Debattenkultur (analog und digital) aufgegeben werden.

Zurück zur Ausgangsfrage. Kann ein Bündnis besser sein als seine Bestandteile? Ganz sicherlich nicht, wenn es nur aus einer Addition der Bestandteile besteht.

Ja, wenn es mehr als die Summe von Einzelinteressen ist.

Über Dr. Hanspeter Knirsch (Gastautor):

Der Autor ist Rechtsanwalt in Emsdetten und ehemaliger Bundesvorsitzender der Deutschen Jungdemokraten. Er gehörte in seiner Funktion als Vorsitzender der Jungdemokraten dem Bundesvorstand der F.D.P. an und war gewähltes Mitglied des Landesvorstands der F.D.P. in NRW bis zu seinem Austritt anlässlich des Koalitionswechsels 1982. Mehr zum Autor lesen sie hier.

Sie können dem Autor auch im Fediverse folgen unter: @hans.peter.knirsch@extradienst.net