Chancen und Tücken der politischen Dreierkonstellation
Erstmals seit den Anfängen der Bundesrepublik regiert wieder eine Dreifarbenkoalition das Land. 60 Jahre lang waren es Zweier-Koalitionen: Schwarz-Gelb, Schwarz-Rot, Rot-Gelb, Rot-Grün. Ab 2021 nun also Rot-Grün-Gelb – die Ampel. Welchen Wandel zeigt das an?
I Pluralisierung
Zunächst einmal den einer politischen Pluralisierung. Und zwar eine, die heute mehr Zustimmung als Ablehnung findet. Die Wahl zum ersten Deutschen Bundestag 1949 erschien im Nachhinein als „letzte Weimarer Wahl“. Der erste Bundestag mit Abgeordneten aus elf Parteien gemahnte an die zersplitterten Verhältnisse der ersten deutschen Demokratie. Im Bundestag von 2021 sitzen sechs Fraktionen. Sie kommen – mit dem Minderheitenvertreter des SSW sowie den Unionsschwestern einzeln gezählt – aus acht Parteien. Das mutet bunt an, wird aber nicht als Schritt in Richtung Weimar gewertet, sondern eher als Skandinavisierung.
Nach dem Scheitern der Jamaicagespräche vor vier Jahren war ein solcher eher hoffnungsfroher Auftakt nicht unbedingt zu erwarten. Damals lag eher ein Satz aus Sartres Theaterstück „Geschlossene Gesellschaft“ in der Luft – ein Stück, in dem drei in einem Zimmer zusammengesperrte Personen sich allerlei Unbill bereiten: „Die Hölle, das sind die Anderen“. Tatsächlich sind Dreierverhältnisse – ob nun theatralisch, amourös oder politisch – etwas vertrackter. Wo liegen die Tücken? Und hat die Dreier- auch besondere Chancen gegenüber der Zweierkonstellation?
II Von der Dyade zur Triade
Bereits Zweierverhältnisse sind nicht einfach. Auf Einsseins und Liebe sollte man nicht durchgängig bauen. Schon gar nicht in der Politik. Politik denkt allenfalls in Bündnissen und gemeinsamen Projekten. Und auch Bündnisse selbst sind kein machtfreier Raum. Die Vermachtung reicht bis zu veritablen Herr-Knecht-Verhältnissen oder – in etwas abgeschwächter Form – zu denen von Koch und Kellner. Die Grünen haben hier ihre Traumata. Auch die Asymmetrien der Schwarz-Gelben Koalition 2009 – 2013 haben sich tief in die Psychologie der FDP eingeschrieben. Und inzwischen hat selbst die stolze SPD mit der Juniorrolle in Großen Koalitionen den Leidensdruck innerdyadischer Vermachtung gut kennengelernt.
In der jetzigen Regierungsbildung war diese kleine politische Traumageschichte durchaus präsent. Sie fand ihren schlagendsten Ausdruck im nächtlichen Selfie, mit dem Grüne und Gelbe einen citrusfarbenen Akzent setzten und über alle Unterschiede hinweg den Willen zum gemeinsamen Vorgehen dokumentierten. Die etwas flappsige Kommentierung des Fotos: „Zwei Kellner auf der Suche nach einem Koch“ spricht durchaus eine psychologische und auch machtrealistische Wahrheit aus. Die Aktion war ein „Piccolo Nicolo“, eine kleine macchiavellistische Volte. Wirkliche Augenhöhe zwischen den zukünftigen Koalitionären war angefragt.
Das wirkliche Novum besteht jedoch darin, dass Grüne und FDP nun auch die Machthebel haben, um der Juniorrolle zu entgehen. Es ist die von Pluralisierung des Parlaments geforderte Dreierkonstellation selbst, die ihnen diese Mittel in die Hand gibt. Doch fast noch spannender ist die Frage, was die SPD aus der neuen Situation macht. Die Partei wäre gut beraten bei aller Freude über das zurückeroberte Kanzleramt die eigene jüngere Geschichte nicht ganz zu vergessen. Denn tatsächlich haben die unterschiedlichen Koalitionen der letzten beiden Jahrzehnte gleich drei gebrannte Kinder hinterlassen – nämlich Grüne, SPD und FDP als jeweils kleinere Regierungspartner. Ein gemeinsames Wissen um die Fallstricke innerkoalitionärer Vermachtung darf also bei allen vorausgesetzt werden. Kluge Schlussfolgerungen daraus könnten zu einem neuen politischen Stil und zum Erfolg einer Koalition beitragen, in der es keinen klassischen Junior mehr gibt.
III Zwischen den Stühlen: Manchmal besser als gedacht
Das Selfie von der grün-gelben Nachtwache verdeutlichte ein prinzipielles Merkmal von Dreierkonstellation: Wenn Gewichtsunterschiede zwischen den Beteiligten nicht allzu groß sind, dann haben alle ihre Machtoptionen. Das ist auch ein Grund, warum es in relativ gleichgewichtigen Triaden ziemlich rund geht – im wahrsten Sinne des Wortes. Keiner sitzt von vornherein am längeren Hebel. Und fast wie beim jugendlichen Flaschendrehen um die Frage, wer denn wen als nächsten küssen darf, kann auch in der politischen Triade jeden Moment eine neue Zweisamkeit entstehen – mit einem Dritten, der in die Röhre guckt.
Dreierkonstellation können nicht nur „die Hölle“ sein, sondern auch Freiräume schaffen. Das gilt selbst dort, wo übermächtig große Akteure am Start sind. Es müssen dann allerdings gleich zwei Große sein. Ein naheliegendes Beispiel für ein solches zweites Grundmodell der Triade liefert der Kalte Krieg, der ja oft auf den Konflikt zweier Supermächte und ihrer Blöcke reduziert wurde. Tatsächlich gab es ein drittes Lager der Blockfreien. Viele Länder schlüpften in die Rolle des umworbenen und nicht strikt festgelegten Dritten und schlugen aus der Systemkonkurrenz Kapital.
Solche Freiheitsspielräume werden oft auch von Kindern in den Verhältnissen zu ihren Eltern entdeckt – und dann virtuos genutzt. Es geht dabei nicht nur um kleine Vergünstigungen des Alltags, sondern mitunter um existenzielle Fragen. Zum Beispiel beim berühmten double bind, wenn ein dominierendes Elternteil ein Kind in einem Wechselbad von Hassbezeugungen und Liebesbeteuerungen fängt. Wenn kein starker dritter Mitspieler auftritt, der das Kind schützt, wird es in den desaströsen Doppeldeutigkeiten gefangen. Dreierkonstellationen können auch hier eine Rettung sein.
Kaiser, Päpste und die moderne Freiheit
Mitunter sind sie auch ein eminenter politischer Freiheitsfaktor sein. Die Freiheitschancen der Triade zeigten sich nicht zuletzt bei der Herausbildung der modernen politischen Freiheit. In Europa war es die Konkurrenz der Supermächte des Mittelalters, Papst und Kaiser, die es vielen Akteuren ermöglichte, im Zweifelsfall bei der jeweils anderen großen Macht Zuflucht zu suchen. Heinrich August Winkler hat in seiner „Geschichte des Westens“ die Implikationen für das moderne Freiheitsdenken herausgearbeitet. Einen Kontrast dazu bilden politische Psychologien in Autokratien, in denen die zweite Appellationsmacht ausfällt. Hier werden womöglich ganze Gesellschaften in ein politisches double bind verstrickt. Den Untertanen bleibt dann nur noch, dem „geliebten Führer“ zu huldigen.
Die Einsicht, dass für relativ Machtlose zwei Starke meist besser sind als nur einer, ist ein starkes machtrealistisches Argument für politische Triaden. Die liberale Demokratie geht noch einen großen Schritt weiter. Sie selbst ist das institutionalisierte Verfahren, das Bürgerinnen und Bürger davor schützt, einer schlechten Regierung auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein. Denn sie können im Zweifelsfall eine neue wählen. Das Spiel von Regierung und Opposition im Verhältnis zur immer wieder neu entscheidenden Wählerschaft ist die wichtigste politische Dreierkonstellation unserer Demokratie.
IV Das rhetorische Dreieck des Populismus
In beiden angeführten Grundmodellen können triadische Beziehungen gegensätzliche Dynamiken entfalten. Doch die möglichen Umläufe und Wendungen sind nicht nur strategisch-taktischer Natur. Es geht nicht nur um die Frage, wie spiele ich möglichst geschickt auf der Klaviatur der Bündnisoptionen, um möglichst viel für mich herauszuschlagen. Es gibt auch eine moralisch-werthafte Seite. Es geht auch um Vertrauen, oder um Abwertung und moralische Distanzierung. Schon das lustvoll-abfällige Reden beim Alltagsklatsch zeigt, wie die dritte Person in den Blick kommen kann – als jemand, den man abwertet und über den man sich lustig macht.
Georg Simmel, der große Soziologe der Dreierbeziehung, hat das Verhältnis zu Dritten als mit Fremdheit Geschlagenen herausgestellt – als diejenigen, die nicht dazugehören. In der politischen Triade ist es die Kommunikation des Populismus, die solche Dritte regelrecht beschwört und konstruiert. Sie tut es, indem sie das berühmte rhetorische Dreieck des Aristoteles auf eine ganz eigene Weise anlegt. Sie bringt dessen Elemente – Sprecher, Hörer und Redegegenstand – auf sehr besondere Weise zusammen. Denn der Redegegenstand des populistischen Redners ist eigentlich keine Sache, sondern eine Person oder Personengruppe, die vermindert oder abgewertet werden soll. Ihr gegenüber erscheinen Redner und Hörer dann als moralisch-werthaft überlegenes Wir. In diesem Unterfangen liegt der Kern der ganzen populistischen Redestrategie. Und hier liegt auch der heikelste Aspekt der politischen Triade als Bezugssystem – heikel auch für unsere Zeitsituation. Denn die Tendenz, Debatten nicht sachangemessen, sondern mit beständiger Personalisierung und ressentimenthafter Ausgrenzung Dritter zu bestreiten, ist unübersehbar: Jemand soll schuld sein – an Corona, an der Anwesenheit von Flüchtlingen und Fremden, an allem, was irgendwie missfällt!
V Neues Regieren
Die Koalitionsgespräche der neuen Ampelregierung haben zu einer solchen rhetorischen Strategie fast nebenbei einen Gegenakzent gesetzt. Und zwar gerade dadurch, dass sie ohne begleitende Dauererregung auskamen. Dass Armin Laschet den Ampelstil dann lobte, spricht für sich. Der unterlegene Kandidat insinuierte, was seiner Partei zum Sieg gefehlt hatte – und ihr dann zeitweise sogar die Sondierungsfähigkeit raubte. Man darf hoffen, dass der Stil der Ampelverhandlungen nicht bloß eine Stilübung bleibt.
Eine wichtige Lehre aus diesen stillen Gesprächen besteht darin, dass Regierungspartner sich nicht für die billigen Chancen der Aufmerksamkeitsökonomie verkaufen sollten. Das Bedienen eines Formats wie dem „Handy-Alarm“, also die Weitergabe vertraulicher Informationen aus laufenden Sitzungen an Boulevardmedien, steht für ein Zusammenspiel von Politik und Medien, das die demokratische Öffentlichkeit regelrecht auszehrt. Es wäre absehbar auch Gift für die neue Dreierkoalition. Stattdessen sollte sie sich am Aufklärungspotenzial von politischer Rede orientieren, an den Standards von Sachhaltigkeit und rationaler Begründung, die seit Aristoteles gut bekannt sind. Politische Kommunikation soll Sachverhalte und Handlungsoptionen darstellen und nicht Vertraulichkeiten einfach ausplaudern oder Gruppen und Personen moralisch anschwärzen. Ein Stil, der genau darauf verzichtet, wäre eine wichtige Antwort auf den grassierenden Populismus. Und er wäre nur auf den ersten Blick langweiliger als der Versuch, Politik als Dauerspektakel zu inszenieren. Er könnte ein Lebensquell sein für einen qualitätsvollen Journalismus und die demokratische Öffentlichkeit.
Aber auch Regierungsrollen müssen neu gedacht werden. In der Dreierkonstellation sind Juniorrollen nun genauso obsolet wie das Modell einer Basta-Kanzlerschaft. Mehr Zukunft hat Angela Merkels sachlich moderierender Stil. Aber auch er reicht längst nicht aus, um den bestehenden Modernisierungsstau aufzulösen. Viele Knoten sind zu lösen – in der Digitalisierung, beim Klima, in der Sozial- und Gesellschaftspolitik. Der Kanzler der neuen Koalition sollte sich als oberster Sachwalter eines anspruchsvollen Koalitionsvertrags verstehen. Er kann kein Zuchtmeister sein, sondern muss mit Sachkompetenz führen – als primus inter pares, der die Umsetzung vieler konkreter Reformschritte orchestriert.
Und er sollte eine Instanz der Verbindlichkeit sein, die den Vertrag garantiert. Olaf Scholz hat für diese Rolle in seinem Wahlkampf bereits die richtige Leitvokabel gefunden: „Respekt“. Respekt ist ein Pendant zu unaufgeregter Sachlichkeit. Und eine Voraussetzung dafür, dass Unterschiedliches zusammenkommt und auch zusammenhält. Denn was auf die Dreierkoalition so sicher zukommt wie die Anrufung der Dreifaltigkeit in der Kirche, ist die nächste große Weltkrise. Kanzler und Regierung werden auf nicht vorhersehbare Weise ins Feuer geraten. Und hier wird es ebenfalls viele politische Nachtwachen geben. Falls dann wieder ein Selfie entsteht, dann vielleicht eines mit der vollständigen Ampelspitze darauf. Es könnte ein Bild sein für gutes, respektvolles und vertrauenswürdiges Regieren.
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