Der Kampf von Charisma und Spießigkeit

Boris Johnson kämpft seit Tagen um sein politisches Überleben. Kanzler Kurz ist schon abgetreten, Trump (zeitweise?) auch. Der Welt-Publizist Ulf „Porschi“ Poschardt ist ja bekennender Johnson-Fan und bedauert das absehbare Schicksal des Briten-Premiers. Er schätzt das „Freigeistige“ an Johnson. Die große Mehrheit der Beobachter in Deutschland dürfte bei der Frage, ob sie lieber einen die „Spießerkonventionen“ des Betriebs hinter sich lassenden Politiker mit Lebemann-Charisma wie Johnson oder einen langweiligen, zugeknöpften und bürokratischen Menschen an der Spitze der Regierung hätten, allerdings eher für die letztere Option votieren:

„All but Johnson, Trump oder Kurz …“

Ich würde mich dieser Position anschließen – wenn es nur diese eine Alternative gäbe. Dass noch eine weitere „charismatische“ Option möglich ist, auf diese Spur kann einen Max Weber führen. Dabei sind auch dessen Überlegungen zum politischen Charisma nicht unumstritten. Vor allem ist unklar, was eine „charismatische Führerdemokratie“ sein soll, für die Weber plädiert.

Allerdings hat er auch eine Liste von Tugenden und Todsünden des Politiker und der Politikerin aufgestellt, die es ja mit den durchaus „diabolischen Mächten“ der politischen Macht zu tun haben. Die drei Kardinaltugenden lauten dort: leidenschaftliche Hingabe an eine Sache ohne „sterile Aufgeregtheit“, Verantwortlichkeit sowie Augenmaß im Engagement für diese Sache. Dass Johnson, Kurz und Trump diesen drei Tugenden in besonderer Weise anhängen würden – noch auch, dass sie überhaupt eine „besondere Sache“ außer der eigenen Person hätten – kann man wohl nicht sagen. Ihre Art des Wirkens dürfte sich eher unter Webers Charakterisierung der politischen Todsünden subsumieren lassen: Unsachlichkeit, Verantwortungslosigkeit, Gefahr zum Schauspieler zu werden, Genießen von Macht um ihrer selbst willen, ohne inhaltlichen Zweck.

Damit gäbe es zumindest ein paar Kriterien dafür, wie ein irgendwie sinnvolles „charismatisches“ Wirken in der Politik aussehen könnte. Allein Lebemann, Freigeist oder Narzisst zu sein, ist offensichtlich nicht ausreichend. Goodbye Spießigkeit und welcome Charisma – dafür müssen in der Politik sachliche Leidenschaft, Verantwortung und Augenmaß hinzukommen. Wie sich dagegen das gute Leben von Privatmann und -frau gestaltet, steht auf einem ganz anderen Blatt. Dass Poschardt diesen Unterschied nicht macht, ist das eigentliche Problem seiner politischen Publizistik.
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Über Reinhard Olschanski / Gastautor:

Geboren 1960, Studium der Philosophie, Musik, Politik und Germanistik in Berlin, Frankfurt und Urbino (Italien). Promotion zum Dr. phil. bei Axel Honneth. Diverse Lehrtätigkeiten. Langjährige Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Referent im Bundestag, im Landtag NRW und im Staatsministerium Baden-Württemberg. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Politik, Philosophie, Musik und Kultur. Mehr über und von Reinhard Olschanski finden sie auf seiner Homepage.