Nicht nur Corona grassiert. Auch der Irrsinn greift immer stärker um sich. Die Zahl der Infizierten schießt hoch. Staatliche Verwaltungen sind narkotisiert. Gesundheitsämter verlieren die Kontrolle. Hospitälern droht Überlast. Die Wirtschaft kämpft mit hohem Krankenstand. Doch Impfgegnern ist diese alarmierende Entwicklung egal. Sie verhelfen mit Demos gegen die Pandemieauflagen dem Virus, sich noch stärker zu verbreiten und die Schäden zu vergrößern.

Nichts passiert

Die Mehrheit der Geimpften ist erzürnt über die Demonstranten, aber auch über die Politiker, die sich mehr um die Interessen der Impfgegner kümmern als um die Sorgen derjenigen, die sich in der Pandemie angemessen verhalten. Die Regierung wirkt untätig und kopflos. Dieser Eindruck setzt sich auch deshalb fest, weil jenseits der deutschen Grenzen Ungeheuerliches geschieht.

Österreich und Australien gehen Impfgegnern an der Kragen. Der ungeimpfte Tennisspieler Djokovic belügt Australiens Behörden über seinen Impfstatus. Und was passiert? Die Regierung wirft den Lügner aus dem Land. Österreichs Regierung hält die Impfpflicht für notwendig. Was passiert? Die Regierung beschließt sie.

Auch in Deutschland ist die Corona-Impfpflicht ein großes Thema. Die meisten Bürger befürworten sie. Eine Mehrheit der rot-grün-gelben Regierungskoalition mit Bundeskanzler Scholz (SPD) an der Spitze ebenso. Und was passiert? Das, was die Gegner der Ampel-Koalition erwartet haben: nichts.

Heiße Luft produziert

Deutschlands Regierung füllt dieses Nichts auf ihre Weise. Sie erklärt die Impfpflicht zu einer Frage der Ethik. Sie bläst den kleinen Stich mit der Nadel zum Eingriff in die Freiheitsrechte auf. In der Disziplin „Aufblasen“ ist Deutschland Spitze. Österreich und Australien handeln. Deutschland produziert heiße Luft.

Probleme, die das Parlament zu ethischen Fragen überhöht, pflegt es zunächst ausgiebig zu debattieren, ehe es über sie abstimmt. Dieser Trick mit der Ethik hilft der Ampel-Regierung, sich um eine zügige Entscheidung über die Impfpflicht herumzudrücken. Mit der Diskussion im Parlament geht Zeit ins Land. Die Regierungskoalition freut sich, dass sie sich noch nicht entscheiden muss. Das Virus freut sich, dass es sich weiter verbreiten kann.

Diese Begleiterscheinung müsse man in Kauf nehmen, meint die Regierung. Die Demokratie und das Wesen der Impfpflicht geböten es, den Abgeordneten die Gelegenheit zu verschaffen, ihre Ansichten auszutauschen und ihre Meinung zu bilden. Über diese Begründung der Volksvertreter können geimpfte und ungeimpfte Bürger nur die Hände über dem Kopf zusammenschlagen.
Keine Meinung gebildet
Seit fast zwei Jahren grassiert die Pandemie. Seit gut einem Jahr gibt es Impfstoff. Seither wird geimpft. Doch die Abgeordneten der deutschen Regierungsparteien haben sich, anders als ihre Kollegen in Österreich, immer noch nicht dazu durchringen können, ihre Meinung über die Impfpflicht zu bilden. Was mag wohl in den Köpfen der Abgeordneten vorgehen?

An jedem Tag, den sie ins Land gehen lassen, wachsen die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Schäden, die das Virus anrichtet. Die Verluste sind so groß, dass sich die Regierung nicht einmal die Mühe macht, sie zu beziffern. Hätten sich alle Bürger wie die Impfverweigerer verhalten, wäre Deutschland samt seiner Impfgegner längst pleite.

Dieser Befund wirft die Frage auf: Sind die Abgeordneten, die zur Impfpflicht keine Meinung haben, im Bundestag am rechten Platz? Diese Frage stellt sich vor allem bei jenen Abgeordneten, die in der Ampel-Koalition Minister sind. Sie hätten unter sich längst Einvernehmen über die Impfpflicht herstellen müssen. Das gilt besonders für die Minister der SPD. Sie trägt seit Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 in der Regierung Mitverantwortung für den chaotischen Umgang mit dem Virus.
Haken geschlagen
Im Vergleich zur österreichischen Regierung erscheint die deutsche schlapp, träge und faul. Wer nach dem Grund für ihre Lethargie sucht, bleibt schnell am phlegmatischen Bundeskanzler Scholz und an dem Sprichwort hängen: Wie der Herr, so’s Gescherr.

Solange Scholz Vizekanzler der Großen Koalition war, versprach er den Impfverweigerern, es werde keine Impfpflicht geben. Als es auf die Ampel zulief, änderte er seine Meinung. Plötzlich plädierte er für die Impfpflicht. Schleunigst umsetzen will sie der wortbrüchige Wendehals aber nicht. Er leidet offensichtlich unter einer Handlungsblockade.

Die Bürger haben nicht nur das zweifelhafte Vergnügen, sich jede Woche mit den neuesten Änderungen der Corona-Verordnungen zu befassen. Sie können nun auch noch darüber grübeln, welchen Sinn die Haken wohl machen, die der neue Bundeskanzler schlägt.

Sich der Mehrheit angeschlossen

Mit seinem jüngsten Frontwechsel, weg von den Impfverweigerern und hin zu den Impfwilligen und der Impfpflicht, hat sich Scholz der Minderheit der Impfgegner den Rücken gekehrt und sich der großen Mehrheit der Bevölkerung angeschlossen. Zwei Drittel würden die Impfpflicht begrüßen.

Die Scholz-Partei SPD trat lange bei dürftigen 15 Prozent auf dem Fleck. Obwohl sich Scholz mit seinem Wortbruch Zugang zum Lager der Mehrheit verschafft hat, tut er ihr nicht den Gefallen, die Impfpflicht zügig durchzusetzen.

Er tut nichts, weil er sich nicht traut. Das Ampel-Bündnis ist über die Impfpflicht uneins. Auf Widerstand stößt sie vor allem im Lager des kleinsten Koalitionspartners FDP. Während drei Viertel der Anhänger von SPD und Grünen die Impfpflicht für erforderlich halten, sind die FDP-Anhänger über diese Frage gespalten. Nur die Hälfte der FDP-Sympathisanten befürwortet sie.
Sich den Impfgegnern angedient
Der FDP-Vorsitzende Lindner will mit aller Kraft verhindern, dass die Ampel-Regierung die Lockdown- und Impfgegner vor den Kopf stößt. Ein Grund, warum er sich mit der FDP so fürsorglich um diese Gruppierungen kümmert, ist die prekäre Lage, in der sich die Partei seit langer Zeit befindet.

Vor dem Ausbruch der Pandemie stand sie bei fünf Prozent. Sie musste fürchten, wie schon 2013 auch bei der Wahl 2021 aus dem Bundestag gewählt zu werden. Sie stabilisierte sich erst kurz vor der Wahl, als Söder den Machtkampf innerhalb der Union anheizte und sich die FDP den Lockdown- und Impfgegnern als Interessenvertretung andiente.

Der Erfolg gab Lindner recht. Die FDP wurde zweistellig. Doch viele ihrer neuen Wähler sind flexibel. So schnell sie kamen, können sie gehen. Will die FDP Impfgegner und -skeptiker länger an sich binden, muss sie sich ins Zeug legen. Sie konkurriert mit der AfD. Scholz muss die Koalitionspartner zusammenhalten. Er kann es sich nicht leisten, die Nöte der FDP zu übersehen. Zwangsläufig entsteht der Eindruck, in der Koalition wedele der Schwanz mit dem Hund.
Unbeholfen agiert
Bundeskanzler Scholz wirkt in dieser Zwangslage hilflos. Er kann nicht verhindern, dass die Koalition über die Impfpflicht gespalten erscheint. Mehr als diesen negativen Eindruck fürchtet er das Risiko, dass die Koalition keine Einigung über die Impfpflicht zustande bringen und über dieses Problem womöglich in eine existenzgefährdende Zerreißprobe geraten könnte.

Die Impfpflicht zur ethischen Frage zu erklären, hilft Scholz, aber auch Lindner aus der Not. Es wird für beide Politiker nun leichter, zur Impfpflicht einen Kompromiss zu erreichen, der im Parlament eine Mehrheit findet und der Koalition eine Zerreißprobe erspart.

Vielen Menschen, die mit politischen Winkelzügen nicht vertraut sind, erschließen sich die Manöver des Kanzlers, der Regierung und der Ampel-Abgeordneten kaum. Wohl aber wird vielen Wählern bewusst, dass die Koalition angesichts der Schäden, die das Virus mit großem Tempo erzeugt, unbeholfen agiert und rat- und hilflos erscheint.

An Rückhalt verloren

Das Virus hat den miserablen Zustand der Republik, ihrer Institutionen und Politiker freigelegt. Nun stellt es auch die neue Ampelkoalition bloß, die sich als Alternative zur großen Koalition anpries und lauthals verkündete, die Missstände zu beheben. Schon nach wenigen Wochen im Amt erscheint die Ampel als ein Bestandteil jener Defizite, die sie beheben wollte.

Die Kluft zwischen der Bürgermehrheit und den Abgeordneten in Parlament und Regierung ist nicht zu übersehen. Die Abgeordneten werden der Mehrheit nicht gerecht. Zwei Drittel der Bürger meinen, die Politiker nähmen auf Impfgegner zu viel Rücksicht und kümmerten sich zu wenig um die Interessen der Mehrheit. Zwei Drittel befürworten die Impfpflicht, darunter drei Viertel der SPD- und Grünen-Anhänger und zwei Drittel der Sympathisanten der Union. Bei der FDP sind gut die Hälfte der Anhänger für die allgemeine Impfpflicht, bei der Linken knapp die Hälfte, bei der AfD nur neun Prozent.

Der fürsorgliche Umgang der Ampel mit der Minderheit der Impfverweigerer bringt die schweigende Mehrheit allmählich in Bewegung. SPD und FDP verlieren in Umfragen. Der Zuspruch zur Ampel sinkt. Scholz, der sich im Wahlkampf das Image des Anführers zulegte und Führung zusicherte, führt sein selbst gewähltes Image ad absurdum. Er liefert nicht, was er verhieß. In der Rangliste der beliebtesten Politiker fällt er weit hinter seine Vorgängerin Merkel zurück – vorerst auf den dritten Rang. Dort steht er, wer weiß, wie lange noch, hinter seinen Gesundheitsminister Lauterbach (SPD), den er gar nicht in seinem Kabinett haben wollte. Schon wird gewettet, welche Kabinettsmitglieder den Kanzler demnächst noch überholen werden.

Über Ulrich Horn (Gastautor):

Begonnen hat Ulrich Horn in den 70er Jahren als freier Mitarbeiter in verschiedenen Lokalredaktionen des Ruhrgebiets. Von 1989 bis 2003 war er als Landeskorrespondent der WAZ in Düsseldorf. Bis 2008 war er dann als politischer Reporter in der Essener WAZ-Zentralredaktion tätig. Dort hat er schon in den 80er Jahren als Redakteur für Innenpolitik gearbeitet. 2009 ist er aus gesundheitlichen Gründen ausgeschieden. Seine Beiträge im Extradienst sind Crossposts aus seinem Blog "Post von Horn". Wir bedanken uns für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe an dieser Stelle.