von Martin Singe
Gemeinsame Sicherheit mit Russland suchen!
Seit Wochen wird in den bundesdeutschen Medien ein Überfall Russlands auf die Ukraine herbeibeschworen. Russland hat seinerseits mehrfach betont, dass ein militärischer Einmarsch in die Ukraine nicht bevorstehe. Auch die Regierung der Ukraine beruhigt zumindest in jüngster Zeit die eigene Bevölkerung und spricht nicht mehr von einer verschärften Kriegsgefahr.
Dennoch werden hierzulande täglich Rufe nach Waffenlieferungen an die Ukraine lauter. Dem gilt es zu widersprechen. Deutschland darf keine Waffen liefern und auch nicht Waffenlieferungen über Drittstaaten (Estland) zustimmen. Dies würde das Eskalationspotential dieses Konfliktes dramatisch erhöhen und die Möglichkeiten von Dialog und Verhandlungsbereitschaft aller Seiten erschweren. Eine Aufrüstung der sowieso hoch militarisierten Ukraine und westliche Truppenverlegungen gen Osten könnten die ukrainische Regierung ermuntern, den Konflikt um den Donbass militärisch zu lösen statt den Minsker Vertrag umzusetzen. Auch Russland sollte durch Rückzug eigener Truppen von der Grenze zur Ukraine zu Deeskalation beitragen.
Die dringlichsten Forderungen sind die Einhaltung der Waffenruhe in allen Teilen der Ukraine unter Aufsicht und Zugangsmöglichkeiten der OSZE sowie die Umsetzung der in wesentlichen Teilen noch uneingelösten Vereinbarungen des Minsker Abkommens. Dazu ist auch die Umsetzung relativer regionaler Autonomiestatuten durch die Verfassung nötig, um eine Spaltung des gesamten Staates zu verhindern.
Langfristig sollte es das Ziel sein, die Ukraine in ihrer Brückenfunktion zwischen West und Ost, zwischen EU und Eurasischer Wirtschaftsunion zu bestärken. Dabei gilt es, die sehr unterschiedlichen Interessen der ukrainischen Bevölkerung zu respektieren.
Russland hatte im Dezember 2021 jeweils als Vertrag ausgearbeitete Vorschläge zur europäischen Sicherheitsarchitektur zum einen an die NATO und zum anderen an die USA gerichtet. Darauf haben NATO und USA inzwischen geantwortet. Auch wenn diese Antworten als vertraulich eingestuft sind, werden wesentliche Anliegen offensichtlich nicht beantwortet bzw. abschlägig beschieden. An diesen Problemen muss jedoch diplomatisch weitergearbeitet werden.
Eine Aufnahme der Ukraine in die NATO sollte vonseiten der NATO klar ausgeschlossen werden, weil dies die Konfliktlage extrem verschärfen und eine Brückenfunktion der Ukraine auf Dauer ausschließen würde. Ein Beitrag zur Förderung der Sicherheit des Bündnisses – laut NATO-Vertrag Voraussetzung für die Aufnahme neuer Mitglieder – wäre durch einen Beitritt der Ukraine nicht gegeben. Es besteht auch kein voraussetzungsloses Recht auf „freie Bündniswahl“, sondern Bedingung wäre eine Einladung zur Mitgliedschaft per Konsensbeschluss aller NATO-Staaten sowie die Berücksichtigung der Sicherheit mitbetroffener anderer Staaten.
Es gibt hinreichende Belege für die Zusagen der NATO im Kontext der 2+4-Verhandlungen zur Vereinigung Deutschlands, dass keine Ausweitung des Bündnisses auf die Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes geplant würde. Statt diese Zusagen einzuhalten, ist die NATO jedoch bündnispolitisch und durch militärische Aufrüstungen Russland zunehmend näher gekommen. Die dortigen Bedrohungsgefühle sind verständlich und müssen ernst genommen werden. Eine Politik echter gemeinsamer Sicherheit kann nur erreicht werden, wenn die NATO zumindest auf weitere Expansion nach Osten verbindlich verzichtet und ihre Bereitschaft erklärt, neue Abrüstungsverhandlungen zu führen, die auch in entmilitarisierte Sicherheitskorridore zwischen Ost und West münden könnten. Solche Sicherheitskorridore würden helfen, die auf allen Seiten vorhandenen Bedrohungsgefühle durch Realpolitik zu vermindern und neues gegenseitiges Vertrauen aufzubauen.
Dringlich sind Verhandlungen über nukleare Kurz- und Mittelstreckenraketen in Europa, um die Stationierung solcher Systeme dauerhaft auszuschließen, wie es seinerzeit mit dem INF-Vertrag von 1987 für nukleare Mittelstreckensysteme gelungen war. Wie in anderen Weltregionen durch Vertragsabschlüsse und gegenseitige Sicherheitsgarantien erreicht, kann auch Europa zu einer atomwaffenfreien Zone umgestaltet werden. Der gemeinsame Beitritt aller europäischer Staaten zum Atomwaffenverbotsvertrag sollte das Ziel sein, einzelne Staaten können hier vorangehen. Hier ist auch die deutsche Politik gefordert, aus der völkerrechtswidrigen nuklearen Teilhabe in der NATO auszusteigen und politisch auf ein atomwaffenfreies Europa hinzuarbeiten.
Die Vorstellung eines „Gemeinsamen Hauses Europas“ unter Einschluss Russlands war nach 1990 zumindest für kurze Zeit eine gemeinsame politische Realutopie für eine echte Überwindung des Ost-West-Konfliktes. Die Charta von Paris von 1990 für ein neues Europa hatte eine solche neue Friedensordnung für ganz Europa hoffnungsvoll in den Blick genommen und den Ost-West-Konflikt für beendet erklärt. Für das Scheitern der Umsetzung und das Schlittern in einen neuen Kalten Krieg gibt es viele Gründe und verschiedene Interessen, die den Gedanken des gemeinsamen Hauses Europa torpediert haben. Es gilt aber, sich dieser Zielsetzung erneut anzunähern, auch wenn erste Schritte vorerst nur der Deeskalation der aufgeheizten Lage dienen können. Aus der Friedensforschung liegen hierfür konkrete Vorschläge vor, wie etwa mit einer groß angelegten internationalen Konferenz auf OSZE-Ebene und auf der Grundlage der Charta von Paris auf eine erneuerte europäische gemeinsame Sicherheitsarchitektur hingearbeitet werden könnte.
P.S.: Der Gedanke der Brückenfunktion der Ukraine zwischen West und Ost wurde von Andreas Buro (friedenspolitischer Sprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie bis zu seinem Tode 2016) entwickelt. Sein Dossier von 2014 zum Ukraine-Konflikt ist vor allem in Bezug auf die Hintergründe des Konflikts auch aktuell sehr lesenswert.
Der Autor ist Mitglied im Komitee für Grundrechte und Demokratie
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