Erfahrungsabriss (II)
Telepolis featuret heute ein weiteres Mal eine Veröffentlichung von Patrik Baab mit einem Auszug aus seinem Buch “Recherchieren. Ein Werkzeugkasten zur Kritik der herrschenden Meinung.”. Er war mir jüngst schon aufgefallen als Barschel-Maniac, einer Lebenslage, in der es sehr schwierig ist, nicht paranoid zu werden. In diesem Buchauszug wirkt er nicht so, sondern liefert weiterführende Gedanken zu gegenwärtigen Aktualisierung des Bonapartismus. An wichtigen Stellen leider allzu grobkörnig.
Das Problem vieler kluger Texte ist, dass sie gesellschaftliche Zustände, die besseren auch Prozesse, analysieren, dabei aber vergessen, verschiedene gesellschaftliche Kräfte und ihre Interessen auch als Subjekte zu begreifen. Wichtigstes Beispiel sind die “abhängig Beschäftigten”, die leider auch bei Baab nur als Opfer und Irregeleitete vorkommen.
In die gleiche Falle geht er bei der Weltfinanzkrise. Ja, die Verbindlichkeiten der Banken wurden den Steuerzahler*innen aufgebürdet und in “Staatsschulden” verwandelt. Ja, die Krise wurde danach durch radikale Liquiditätspolitik der Noten- und Staatsbanken bewältigt, und hat seitdem Aktien- und Immobilienmärkte aufgeblasen, an den Krisenursachen aber nichts geändert, weil das oberste Ziel das Weiterfunktionieren eines globalisierten Kapitalismus war. Ich würde aktuell sogar hinzufügen: das Zerbrechen dieses globalen Konsenses der Herrschenden ist es, was uns gegenwärtig der Kriegsgefahr näherbringt.
Das Zusammenbrechenlassen der “bösen” Grossbanken wäre ganz sicher keine bessere Alternative gewesen, ohne ein kolossales finanzpolitisches Begleit- und Auffangprogramm. Von einem solchen ist mir als Laien jedenfalls nie etwas bekannt geworden. Meine These: selbst bei gutem Willen “der” Politik, hätten die machtpolitisch Handelnden überhaupt keinen Begriff davon gehabt, wie sowas aussehen könnte. Angst regierte. Einschüchterung durch die herrschende Klasse funktionierte.
Während der Finanzkrise 2007/8 war es die linke Syriza-Regierung Griechenlands, die von den linksradikalen Bescheidwisser*inne*n in allen reichen kapitalistischen Ländern schmählich im Stich gelassen, und der deutschen Merkel/Schäuble-Regierung, die unbemerkt alle Grossbanken da raushaute, zum Frass vorgeworfen wurde. Na klar hat auch die griechische Regierung Fehler gemacht; der grösste Fehler war aber, dass linke Diskurse, geschweige denn politische Bewegungen, in den europäischen Machtzentralen überhaupt nicht wahrnehmbar waren.
Das ist ein verwerfliches Versagen aller Linken und Liberalen in den reichen und mächtigen kapitalistischen Ländern, also an erster Stelle: Deutschland. Nicht nur Patrik Baab, sondern alle Besser- und Bescheidwisser*innen müssen begreifen lernen, dass Fortschritt politisch nur durchsetzbar ist, wenn es gelingt, handlungsfähige Bündnisse aller emanzipatorischen Kräfte zu bilden. Das sind hierzulande , spätestens seit Willy Brandt (aber es war in der Weimarer Republik schon so, und dass es nicht begriffen wurde, hat zu den bekannten Weltkatastrophen geführt), alle “links der CDU/CSU”. Da bin ich mir sogar mit Olaf Scholz einig, den ich schon in Jugendjahren als politisch unzuverlässiges, hintertriebenes Windei wahrgenommen habe. Aber als intelligentes Windei.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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