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Die wichtigste Lehre

Die russische Ukraine-Aggression: Die Befindlichkeiten unserer mittelosteuropäischen Nachbarn endlich ernst nehmen!

Die Aggression Russlands in der Ukraine ist eine Zäsur. Sie erfordert ein ganz neues Nachdenken über Nato und Europa – vor allem auch in der deutschen Politik. Weniger wichtig ist in diesem Zusammenhang die Totalblamage von politischen Kräften links und rechts außen angesichts der gegenwärtigen Krise:

1) Die Russland-Trolle von der AfD wurden von ihrem Geld- und Ideengeber Putin nun heftigst möglich vorgeführt.

2) Ebenso die Wagenkecht/Lafontaine-Fraktion bei der Linken.

Für diese Parteien könnten die aktuellen Vorgänge sogar existenzbedrohend werden.

3) Die SPD wiederum hat durch Schröders Kumpanei mit dem Putinismus, die tief in die SPD-Führung ausstrahlte, ihre ostpolitische Kompetenz weitgehend eingebüßt. Mit einer einfachen schnellen Volte durch Scholz ist es da nicht getan.

4) Die Union hat mit 16 Jahren Regierungsführung neben der SPD die Hauptverantwortung dafür, dass die Bundesrepublik so unvorbereitet bis naiv in die neue Lage stolperte.

5) Robert Habeck war es, der letzten Sommer als erster die Lieferung von Defensivwaffen an die Ukraine forderte. Aber auch wenn die Entwicklung ihm recht gegeben hat, so müssen nun auch die mit der Friedensbewegung groß gewordenen Grünen viele Positionen neu bestimmen.

Was ist das Wichtigste bei der Neubestimmung der Sicherheitspolitik durch die verschiedenen demokratischen Kräfte, die nun ansteht? Und welche Fehler sollten sie dabei dringend vermeiden?

Wenig sinnvoll ist es, wenn das Mitte-Rechts-Lager jetzt alte Kalte-Kriegs-Denkmodelle aufwärmt – so wie Friedrich Merz es im Bundestag anklingen ließ, als er sich über die vorgeblich Naivität von Lichterketten-Demonstrationen lustig machte – nach dem Motto: „Wir haben es ja schon immer besser gewusst.“ Britta Haßelmann hat darauf engagiert und äußerst treffend geantwortet.

Wenig sinnvoll ist es aber auch, wenn ein Mitte-Links-Lager mit großen Affinitäten zur Tradition der Friedensbewegung sich jetzt auf eine politisch defensive „Es-war-nicht-alles-falsch“-Haltung zurückzieht. Natürlich war nicht alles „falsch“! Und ein Nachdenken, das sich nicht nur um Waffen dreht, sondern auch um die Beseitigung von Konfliktursachen, bleibt aktuell. Aber das wird der Neubewertung der Lage, die jetzt nötig ist, nicht unmittelbar gerecht.

Mitte-Links und Mitte-Rechts sollten gedanklich jetzt vor allem einmal einen Schritt zurücktreten, um die neue Lage überhaupt an sich heranzulassen. Meines Erachtens gibt es für das Nachdenken, das jetzt Not tut einen sehr guten Ausgangspunkt:

Bei der Neubestimmung der Sicherheitspolitik sollte man die Befindlichkeiten unserer ostmitteleuropäischen Nachbarn endlich ernstnehmen und GROSS schreiben! Das ist jetzt der springende Punkt!

Denn der eigentliche Skandal der letzten Jahre bestand in der falschen Gewichtung Ostmitteleuropa/Russland in der deutschen Politik.

1) Gegenüber den nächsten Nachbarn, Ländern wie Polen, Litauen, Lettlands, Estlands, Rumänien, Bulgarien, Slowakei u.s.w. (zählt man die Ukraine hinzu, kommt man auf 130 Mio Menschen!!!) befleißigte man sich einer lauwarmen Haltung – nach dem Motto: Ja, wenn was passiert, vielleicht verteidigen wir Euch, wenn Ihr der Nato angehört, vielleicht aber auch nicht. Wir wollen uns vor allem nicht die Finger verbrennen.

2) Gegenüber Russland (140 Mio Einwohner) dagegen hofierte und liebedienerte man was das Zeug hielt und steckte selbst die schlimmsten Mördereien des „lupenreinen Demokraten“ Putin einfach weg, trieb Nordstream 2 voran – trotz Totalisolation im Westen -, und war auch schon damit beschäftigt, die Verwerfungen der russischen Krim-Annexion politisch wegzumoderieren – danke, Schröder! Danke aber auch Kanzlerin Merkel!

Es bestand für die bundesdeutsche Regierungspolitik der letzten Jahre offensichtlich nicht die Spur eines Zweifels, dass uns unsere nächsten Nachbarn weniger wert sind als das weiter entfernte Russland, mit dem man sich über die Köpfe der nächsten Partner hinweg ins Benehmen setzte. Das war der außen-, europa- und sicherheitspolitische Skandal der letzten Jahre. Und das muss nun dringend geändert werden.

Und da sollte man auch nicht drum herum reden:

1) Die Nato muss nun eine starke und abschreckende Präsenz an ihren östlichen Außengrenzen aufbauen. Das schützt unsere ostmitteleuropäischen Freunde. Aber auch uns selbst.

2) Sie muss – genau wie die EU – wohlwollend und schnell auf die Aufnahmewünsche weiterer Länder in der Region reagieren.

3) Sie muss auch militärisch auf den nötigen Stand kommen – auch natürlich die Bundeswehr, die zudem eine tiefgreifende Strukturreform braucht.

Es geht in den nächsten Jahren um eine wirklich glaubwürdige Sicherung der Ostflanke der Nato – damit unsere nächsten Nachbarn nicht länger in Angst und Unsicherheit leben müssen. Gleichzeitig sollte das nicht als neue Kalte-Kriegs-Planung und Totrüst-Konzept begriffen werden, sondern als Interims-Lösung, bis mit Russland – in vielleicht nicht allzu langer Zeit – ein besseres Einvernehmen möglich wird.

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Über Reinhard Olschanski / Gastautor:

Geboren 1960, Studium der Philosophie, Musik, Politik und Germanistik in Berlin, Frankfurt und Urbino (Italien). Promotion zum Dr. phil. bei Axel Honneth. Diverse Lehrtätigkeiten. Langjährige Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Referent im Bundestag, im Landtag NRW und im Staatsministerium Baden-Württemberg. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Politik, Philosophie, Musik und Kultur. Mehr über und von Reinhard Olschanski finden sie auf seiner Homepage.

2 Kommentare

  1. Martin Böttger

    Ist “Putin” und sein System nun “irre”, “wahnsinnig”, “verrückt”, “krank”, jedenfalls von der Wirklichkeit des Lebens auf diesem Planeten abgewandt? Oder stimmt das gar nicht? Dann könnte uns Adam Tooze’ Argument ja egal sein:
    “Die Russen sitzen auf dem zweitgrößten Atomwaffenarsenal, und es ist, als ob diese Binsenweisheit uns abhandengekommen wäre und als würde jetzt Europa den großen Volkskrieg gegen Russland feiern.”
    Der Standard: https://www.derstandard.at/story/2000133861105/wirtschaftshistoriker-tooze-wir-fuehren-einen-wirtschaftskrieg-gegen-russland
    Wo ist diese Stelle jetzt bei Dir?
    Oder weiss die Nato mehr? Hat sie die Generäle schon ausgemacht, die ihn – ähnlich wie die USA gegenüber Trump – vom “roten Knopf” fernhalten? Ich würde mich bedeutend besser fühlen, wenn sie mir das auch mitteilen würde. Oder ist mit Angst regieren doch effektiver?

    • Reinhard Olschanski

      Ernsthafte Sanktionen sind sehr wichtig, mittelfristig auch mit Blick auf die russischen Energieströme, mit denen Russland das alles ja finanziert. Allerdings glaube ich auch, dass Europa nur dann eine Chance hat, wenn es die ostmitteleuropäischen Staaten tatsächlich als „Subjekte“ anerkennt und ihrem Wunsch, endlich aus dieser irrwitzigen sicherheitspolitischen Wackellage mit russischem „Zugriffsrecht“ befreit zu werden, entgegenkommt.

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