Eines muss man zunächst einmal anerkennen. Die Ampelkoalition hat es in ihrem Koalitionsvertrag gewagt, einige Privilegien der christlichen Kirchen in Frage zu stellen. Ein wichtiger Punkt sind die Staatsleistungen, die die Kirchen seit 1919 erhalten und die jährlich rund 550 Mio. € betragen (vgl. Extradienst vom 25.5.2021). Am 6. Mai 2021 war ein Antrag von Grünen, FDP und Linken, der eine rechtssichere Ablösung der Staatsleistungen zum Ziel hatte, im Bundestag mit deutlicher Mehrheit (vor allem von CDU/CSU und SPD) abgelehnt worden.
Dieses sogenannte Grundsätzegesetz soll nun erneut eingebracht werden. Die Antragsteller weisen darauf hin, dass die Ablösung der an die Kirchen gezahlten Staatsleistungen für die Anfang des 19. Jahrhunderts erfolgte Enteignung von Kircheneigentum ein Verfassungsauftrag ist (Art. 140 GG), dem seit mehr als hundert Jahren nicht entsprochen wurde. Für die Ablösung ist eine Frist von 20 Jahren vorgesehen. Die Höhe der Entschädigung soll nach dem Äquivalenzprinzip erfolgen (Zahlungen sollen den Leistungen entsprechen).
Die Kirchen bewerten eine Ablösung der Staatsleistungen grundsätzlich positiv. Das überrascht nicht, denn wenn die Staatsleistungen, die ansonsten bis in die Ewigkeit gezahlt werden müssten, abgelöst werden, werden sie „kapitalisiert“ und es wird ein hoher Ablösungsbetrag fällig (einmalig oder auf 20 Jahre verteilt).
Anders als in anderen Staaten sieht das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland keine strikte Trennung von Staat und Religion vor. Wir haben jedoch auch keine Staatskirche, sie wurde 1919 abgeschafft. Der Staat wirkt mit den Religionsgemeinschaften zusammen. Er darf sich jedoch selbst nicht mit einem bestimmten religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis identifizieren, so hat es das Bundesverfassungsgericht entschieden. Der Staat muss vielmehr allen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften neutral und tolerant gegenüberstehen.
Die Staatsleistungen sind indes nur eines von vielen Privilegien, die die Kirchen genießen. Diese Vergünstigungen finden wir in den Paragraphen 136 bis 141 der Weimarer Verfassung (WRV) die laut Art. 140 GG Bestandteil des Grundgesetzes sind. Dort steht zunächst in Art. 136 WRV die Garantie, dass die Rechte der Bürger/innen nicht durch die Religionsfreiheit und ein religiöses Bekenntnis beeinträchtigt werden dürfen, dass die religiöse Anschauung vertraulich ist und dass niemand zu religiösem oder kirchlichen Verhalten gezwungen werden darf.
Art. 137 WRV sichert die Freiheit zur Bildung von Religionsgemeinschaften und deren Eigenständigkeit bzw. Unabhängigkeit, erkennt sie an als Körperschaften des öffentlichen Rechts und gewährt ihnen das Recht zur Erhebung von Steuern und die Festlegung der Hebesätze. Art. 138 regelt die Staatsleistungen und ihre Ablösung und gewährleistet das Eigentum der Kirchen und anderer Rechte (Stiftungen, Anstalten, sonstiges Vermögen). Art. 139 schützt den Sonntag und die kirchlichen Feiertage, und Art. 139 bestimmt, dass Gottesdienste und Seelsorge in öffentlichen Einrichtungen zulässig sind.
Weitere Sonderrechte der Kirchen stammen aus dem 1933 zwischen dem Vatikan und der nationalsozialistischen Reichsregierung abgeschlossenen Konkordat und aus vergleichbaren Verträgen mit der Evangelischen Kirche. Im Konkordat sicherte das Deutsche Reich der katholischen Kirche in Deutschland eine Vielzahl von Privilegien und Vergünstigungen zu. Die innere Autonomie, die kirchlichen Verwaltungsstrukturen und die ungehinderte Verbreitung von Schriften werden anerkannt, Kirchengemeinden gelten als Körperschaften des Rechts, die Freiheit des Bekenntnisses und seine öffentliche Ausübung sowie das Beichtgeheimnis werden garantiert, die katholischen Bekenntnisschulen werden unter Schutz gestellt, ihre Lehrer/innen müssen der katholischen Kirche angehören, Kleriker und Ordensleute sind von der Pflicht zur Übernahme öffentlicher Ämter befreit (auch vom Wehrdienst),
Die Ampelkoalition will dieses „Religionsverfassungsrecht im Sinne des kooperativen Trennungsmodells weiter entwickeln,“ was sich zunächst progressiv anhört. Allerdings folgt sogleich der Hinweis, dass dies „die Beteiligung und Repräsentanz der Religionsgemeinschaften, insbesondere muslimischer Gemeinden verbessern“, deren Position also stärken soll. „Sind Ergänzungen des Rechtsstatus von Religionsgemeinschaften notwendig“, so wird „dies in enger Abstimmung mit den betroffenen Kirchen und Religionsgemeinschaften“ erörtert. Entscheidungen gegen die Interessen der Kirchen und zur Einschränkung ihrer Privilegien und Machtbefugnisse sind auf diesem Wege wohl kaum möglich.
Schauen wir uns doch mal einzelne Privilegien an. An die Kirchensteuer traut sich die Koalition nicht heran. Das überrascht insoweit nicht, als die Verfassung den Kirchen das Recht auf Steuerhebung zuspricht. Allerdings steht dort nichts darüber, dass der Staat den Steuereinzug für die Kirchen übernimmt und dass er dazu die von den Finanzämtern ermittelten persönlichen Steuerdaten der Bürger/innen verwenden darf.
Ähnlich ist es beim Recht auf Seelsorge in öffentlichen Einrichtungen. Die wird in der Tat von der Verfassung garantiert. Nirgendwo ist jedoch davon die Rede, dass sie vom Staat finanziert werden soll. Unklar ist auch, wieso die (nicht gerade geringen) Gehälter der Bischöfe vom deutschen Staat gezahlt werden? Eine Sonderheit sind die kirchlichen Fakultäten an einigen Universitäten. Ihre Existenz verdanken sie dem Konkordat, und sie werden staatlich finanziert und gewähren den Kirchen ein Vetorecht bei der Besetzung der Lehrstühle. Vielleicht braucht man sie zur Umsetzung des Religionsunterrichts an Schulen, den wir gleichfalls im Konkordat finden.
Bei manchen kirchlichen Privilegien kann man immerhin beruhigt feststellen, dass sie den Staat bzw. die Bürger/innen nicht allzu viel kosten. Gemeint sind z.B. die Sendezeiten in Rundfunk und Fernsehen oder die Vertretung der Kirchen im Ethikrat, in Rundfunkräten und in vergleichbaren Gremien. Manche dieser Posten lassen sich sogar aus der Rolle und dem Selbstverständnis der Kirchen rechtfertigen. Dazu passt aber nicht ein kürzlicher Skandal: Die nordrhein-westfälische Landesregierung aus CDU und FDP hat die Zahl der Mitglieder im WDR-Rundfunkrat von sieben auf fünf verkleinert. Dadurch entfiel – welch ein Zufall – der Sitz der konfessionslosen Gruppen (den bis dahin die frühere FDP/SPD-Bundestagsabgeordnete Ingrid Matthäus wahrgenommen hatte).
Dass die Kirchen eigene Kindertagesstätten, Schulen, Krankenhäuser, Soziale Dienste, Jugend-, Alten- und Pflegeheime betreiben, ist zunächst einmal erfreulich. Der Bedarf ist gewiss gegeben. Weniger erfreulich ist dann jedoch der Umstand, dass die Finanzierung all dieser Einrichtungen weitestgehend vom Staat erfolgt, die Kirchen dort jedoch ihr ganz individuelles Arbeits- und Sozialrecht praktizieren dürfen.
Diesen Anspruch leiten die Kirchen aus Art. 137 WRV ab (s.o.). Das kirchliche Arbeitsrecht steht somit neben bzw. über dem staatlichen Arbeitsrecht. Die Kirchen lassen dort ihre Rechtsvorschriften und ihr Selbstverständnis einfließen. Besondere Bedeutung haben dabei die Loyalitätspflichten der Beschäftigten gegenüber der Kirche. Sie haben sich „an der Glaubens- und Sittenlehre und an der Rechtsordnung der Kirche auszurichten“. Verstöße dagegen können als Pflichtverletzung angesehen werden und im Extremfall zur Kündigung führen. Das allgemeingültige Diskriminierungsverbot findet keine Anwendung. Das geht bis zu der Groteske: Fremdgehen darfst Du, aber nicht scheiden lassen. Von solchen „Geschäften“ steht nichts in der Verfassung.
>In Aachen ist die Leitung einer katholischen Grundschule vakant. Die einzige Bewerberin ist evangelisch. Also bleibt die Stelle weiterhin unbesetzt.<
Auf dem Anspruch auf ein eigenes Arbeits- und Sozialrecht basieren auch das fehlende Streikrecht und die gering ausgeprägte Mitbestimmung im kirchlichen Bereich. Die Arbeitsbedingungen wie Vergütung, Arbeitszeit oder Urlaub werden in einer paritätisch besetzten Kommission festgelegt. Die Koalition hat das Problem offenbar erkannt und will nun gemeinsam mit den Kirchen prüfen, inwieweit das kirchliche Arbeitsrecht dem staatlichen angeglichen werden kann. So soll der Gleichbehandlungsartikel im Grundgesetz um ein ausdrückliches Verbot der Diskriminierung wegen der sexuellen Identität ergänzt werden.
125 Menschen, die in Kirchendiensten stehen und sich als „queer“ bezeichnen, haben sich nun öffentlich gemeldet. Die Bandbreite geht von Priestern über Religionslehrer/innen bis zu Verwaltungsangestellten. Sie gehen damit das Risiko einer Kündigung ein, weil sie dem kirchlichen Arbeitsrecht unterliegen. Insgesamt betrifft dies 1,3 Mio. Mitarbeiter/innen. Die Initiative fordert Reformen, sodass sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität nicht mehr zur Kündigung berechtigen. Die Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken unterstützt dieses Anliegen.
Ein weiteres Privileg sind Steuerbefreiungen. Kirchliche Einrichtungen zahlen beispielsweise keine Steuern auf Zinserträge oder Immobilien. Für Baugenehmigungen und für notarielle Beurkundungen werden keine Gebühren erhoben. Bekannt ist, dass sich die Kirchen, vor allem die katholische, in den vergangenen Jahrzehnten bei Straftaten von Kirchenbediensteten (vor allem bei Missbrauchsfällen) das Recht zur Strafverfolgung angemaßt und die öffentliche Rechtspflege übergangen haben.
Dabei ist die Rechtslage eindeutig: Es gibt keine grundsätzlichen Ausnahmen von der Strafverfolgung für die Kirche und ihre Priester wie bei der Immunität von Parlamentariern oder Diplomaten. Es gibt auch kein Recht der Kirche – etwa unter Hinweis auf das Kirchenrecht und die eigene Strafgewalt – ihre Institution von strafrechtlichen Eingriffen frei zu halten. Dennoch ist dort immer wieder eine deutliche Zurückhaltung der staatlichen Strafverfolgungsbehörden spürbar. Das Verfahren gegen einen Limburger Bischof wegen Untreue wurde eingestellt, da es sich um „kirchliche Angelegenheiten“ handele. Und während Konzerne, Stiftungen und sogar Ministerien mit Durchsuchungsbeschlüssen rechnen müssen, kommt dies offenbar bei Kirchen nicht vor.
Das System von Vertuschung und Verleugnung ist vielfach gebrandmarkt worden, Aufklärung und Aufarbeitung gehen nur langsam voran. Die neue Regierung will zwar den Kindesmissbrauch stärker bekämpfen, erwähnt die Kirchen jedoch nur am Rande, zusammen mit Sportvereinen und Jugendeinrichtungen. Letztlich ist es bemerkenswert, dass der Austritt aus der Kirche (in die man nie willentlich eingetreten ist) nur als Verwaltungsakt und nicht per Kündigung erfolgen kann.
Angesichts der zögerlichen Formulierungen im Koalitionsvertrag ist eine nachhaltige Ermunterung an die Bundesregierung angebracht, nicht auf halbem Wege stehen zu bleiben und nicht nur die Staatsleistungen abzulösen, sondern alle Privilegien der Kirchen abzuschaffen, die nicht durch die Verfassung vorgegeben sind. Auch wenn dies auf Widerstand bei den Kirchen stoßen wird. Dabei dürfte sich eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14.12.1965 als ausgesprochen hilfreich erweisen: „Das Grundgesetz … legt dem Staat als Heimstatt aller Bürger ohne Ansehen der Person weltanschaulich-religiöse Neutralität auf. Es verwehrt die Einführung staatskirchlicher Rechtsformen und untersagt auch die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse.“
Auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs kann der Bundesregierung helfen. Ein leitender Mitarbeiter eines katholischen Krankenhauses hatte gegen seine Kündigung wegen Wiederheirat geklagt. Die Klage landete schließlich beim Europäischen Gerichtshof. Dieser entschied, dass eine verbotene Diskriminierung vorliegen könne, da das katholische Eheverständnis für eine ärztliche Tätigkeit nicht zwingend sei. In einem anderen Fall hat der EuGH entschieden, dass eine Kirchenzugehörigkeit nur verlangt werden dürfe, wenn es sich um eine „wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung“ handelt. Einen Freibrief für die katholische Kirche zur Durchsetzung ihrer Rechtsvorstellungen gibt es also nicht.
Bei den Verhandlungen mit den Kirchen wird die Regierung an den in Art. 140 GG enthaltenen Privilegien der Kirchen wohl nur schwer vorbei kommen. Auch die Zusagen im Konkordat und in den vergleichbaren Verträgen mit der Evangelischen Kirche lassen sich kaum einseitig ändern. Das Konkordat enthält keine Kündigungsklausel. Maßgebend wäre dann Art. 62 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge zwischen Staaten und internationalen Organisationen, das bei bestimmten Sonderfällen eine Beendigung von völkerrechtlichen Verträgen oder den Rücktritt von ihnen erlaubt. Wenn die Bundesregierung tatsächlich die kirchlichen Privilegien beseitigen oder zumindest einschränken will, wird daher wahrscheinlich das Bundesverfassungsgericht das letzte Wort sprechen.
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