Erst recht in einem etwas grösseren “Saarland”

Anne Spiegel kenne ich nicht persönlich. Darum glaubte ich bisher zur Diskussion um sie nichts Sachkundiges beitragen zu können. Zum “System”, über das sie – politisch – gefallen ist, habe ich allerdings einiges beizutragen. Mein ehemaliger Chef Roland Appel musste seine Politikkarriere 2000 u.a. deswegen beenden, weil ihm Grüne Parteitagsdelegierte mehrheitlich übelnahmen, dass er seine “freiwilligen” Parteispenden nicht ordnungsgemäss gezahlt habe. Roland glaubte alle mögliche guten persönlichen Gründe dafür zu haben. Das half ihm nicht – eher im Gegenteil.

Irgendwas ist bei den Grünen bei der Weitergabe politischer Erfahrungen in den seitherigen Jahrzehnten fürchterlich schiefgelaufen. Es ist ja auch an der Abschaffung ihrer Friedenspolitik, mehr von den Rest-“Linken” als von den früheren “Realos”, gut zu erkennen. Wie ist es nun um Jürgen Trittins Schlaf bestellt? 1994-98 als Parteivorsitzender hatte er zeitweise gar keinen, eine besorgniserregende Gesundheitsgefährdung. Einer der Letzten, der den Jüngeren in seiner Fraktion was vermitteln kann. Sofern sie sich noch Zeit zum Denken und Zuhören nehmen, im immer dramatischeren schnelldrehenden Karrierekarussell.

Das immer wiederkehrende Missverständnis, das auch Spiegels Fall überwölbte, ist der Aberglaube, das Einsteigen ins Politbusiness verheisse emanzipatorische Kraft. Das muss im real existierenden medienkapitalistischen System klar ausgeschlossen werden. Obwohl ich selbst als 16-jähriger ein Gegenbeispiel war. Als ich 1973 den Jungdemokraten und der FDP beitrat, stieg ich im Ansehen meiner Mitschülerinnen in die Erste Liga auf. Damals, auf dem Höhepunkt der sozialliberalen, entspannungspolitisch orientierten Brandt/Scheel-Ära war auch die Politik auf dem Höhepunkt ihres Ansehens in der Bevölkerung. Wahlbeteiligung Bundestagswahl 1972: 91,1%.

In den Nuller-Jahren brachte ich in einem Diskussionspapier einer Autor*inn*engruppe im Grünen-Kreisverband Bonn die Formulierung unter: “Eine Partei ist keine Wohngemeinschaft”. WG-Mitglieder werden individuell ausgesucht, meistens sogar geprüft. Parteimitglieder kommen zu einem – im besten Falle politischen – Zweck zusammen. Da sind – immer – viele dabei, mit denen weder mann noch frau jemals zusammenziehen würde. Massiven Protest – bis zum “wer hat das geschrieben?” – erntete meine Formulierung damals von Godesberger Professorengattinnen. Hier “spiegelte” sich bereits früh, wie Parteien heute, am Tiefpunkt des Ansehens von Politiker*innen in der Gesellschaft, ihr Personal rekrutieren müssen. Es sind seit vielen Jahrzehnten nicht mehr “die Besten”, die sich um öffentliche Ämter bewerben (Ausnahmen gibt es).

Wenn Frau Spiegel in ihrem Krisenmanagement davon getrieben war, emanzipatorische Ziele für eine fortschrittliche Frauen- und Familienpolitik an ihrem persönlichen Beispiel öffentlich durchspielen zu wollen – dann bringt ihr das unter ihren privaten Freund*inn*en vielleicht Respekt für ihren Edelmut ein. Mir, der ich sie und ihre Freund*inn*e*n nicht kenne, stellt sich eher die Frage: wer hat die Arme nur so scheisse beraten? Oder: wie kann eine Ministerin sich so schlechte Teams zusammenstellen?

Ein Grund – unter vielen anderen – könnte sein, dass sie aus einem Landesverband kommt, der nur wenig grösser als ein Saarland (kleiner als Köln), gerade mal auf der Grössendimension von Berlin, aber mit faktischer Urbanität nahe Null, ist. Mit entsprechenden Problemen einer politischen Kaderentwicklung. In die Bundesregierung gelangte sie u.a. als Repräsentantin der Linkenreste in den Grünen. Und machte deren Elend allen sichtbar, die es noch nicht kannten.

Es scheint eine Kulturschranke zwischen der hyperventilierenden egomaniegetriebenen Berliner Hauptstadtblase und der Weinhochburg Rheinland-Pfalz zu geben. Kurt Beck weiss, was ich meine. Und einige Grüne aus NRW, die versuchten, dort ihre Karriere als Entwicklungshelfer fortzusetzen, wissen es auch. Malu Dreyer hätte in den fernen Osten auswandern können, wenn sie gewollt hätte. Aber die ist zu klug.

Schade eigentlich. Mit Erfahrungslernen wäre mehr drin gewesen.

Zum Krieg noch die “Nullcovid”-Katastrophe

Das deutsche Medieninteresse an China ist im Ukrainekrieg geschmolzen, wie das Eis an den Polkappen. Ein Grund ist, dass die chinesische Position zum Krieg nicht “wertegeleitet” sondern “interessengeleitet” ist. Das liegt quer zum deutschen Medien-“narrativ”, ist zu schwer zu begreifen und zu vermitteln. Zum Nachdenken, zum Reinimaginieren in die “Gegenseite” ist keine Zeit mehr.

Und während wir hierzulande – Bonner 7-Tage-Inzidenz 821,9, 154 im Krankenhaus, 22 auf Intensiv – Ostern feiern, als wäre “es” vorbei, ist nichts vorbei. Auch in der “Nullcovid”-Grossmacht China nicht, und dort vor allem in den globalisierten Wirtschaftszentren Shenzhen und Shanghai nicht. Ralf Krauter berichtete heute morgen im DLF (Audio 5 min).

Wie bauchnabelorientiert kann eine deutsche Berichterstattung sein, die die dem innewohnenden Katastrophenpotenziale nicht zur Kenntnis nimmt? China ist die weltweite Ökonomie Nr. 1. Ihre Wirtschaftszentren gehen in einen wochenlangen Lockdown. Shanghai ist der grösste Handelshafen der Welt. Das sprengt die Lieferketten. China hat 1,4 Mrd. Einwohner*innen. Was, wenn es das Virus nicht eindämmen kann? Wo ist die internationale Impfsolidarität? Dominiert auch hier die Regimechange-Strategie? Zuviel Testosteron gefressen?

Zur Erinnerung: für die Wende im Klimaschutz bleiben nur noch wenige Jahre. Russland führt Krieg. China hat Corona. Die USA wollen beide im Schwitzkasten haben, statt mit ihnen gemeinsam Klimaschutz umzusetzen. Indien wird mit Begeisterung mit Rüstung beliefert, statt mit ihm eine Energiewende und Impfsolidarität zu üben. Brasilien ist faschistisch regiert, brennt und holzt ab, als gäbe es kein Morgen mehr. Könnte sich als richtig herausstellen.

Hallo? Ich bin 65, und habe eine realistische Chance auf einen “natürlichen” Tod. Und wie wollt “Ihr” sterben?

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net