Gestern hat sich der von mir ob seiner luziden journalistischen Arbeit hochgeschätzte Günter Bannas im „Extradienst“ Gedanken zur Ambivalenz des Pazifismus gemacht und dabei auch an Heiner Geisslers berühmtes (und auch berüchtigtes) Diktum erinnert, wonach die Pazifisten der 1930er Jahre Auschwitz erst möglich gemacht hätten. Ich muss gestehen: Dieses Zitat hat mir lange Zeit den Schaum vor den Mund getrieben und die Einsicht lange behindert, dass dieser Pfälzer Heiner eigentlich ein sehr cleverer Kopf ist/war (zumal abseits von seinen Machtfunktionen in der Kohl-CDU). Schade, ich hätte doch einmal abseits eines dürren dienstlichen Verkehrs etwas länger und persönlicher in die Hauensteiner Strasse in Dahn schreiben sollen – kam mir letztens so beim Wandern im Pfälzer Wald, wo der Geissler – auch mit dem Gleitschirm ziemlich freigeistig – rumsegelte und dabei mindestens einmal auch heftig abstürzte.

Sein Zitat gefällt mir immer noch nicht. Aber es führt mich auf eine Spur, der man einmal näher nachgehen sollte: Hat die Bundesrepublik im Allgemeinen und die Friedensbewegung mit ihrer hoch-existenziellen Sprache im sehr Speziellen nicht lange von der Gnade der „nicht-existenziellen Außenpolitik“ gezehrt? Also von einem Standing in der Welt, in der die Existenz der eigenen Staatlichkeit unter den Raketen- und Panzerschutzschirmen der Nato nie so recht in Frage stand – außer natürlich im Kontext eines Allgemeinkladderadatschs des großen Atomkriegs?

Das war dann auch eine Zeit, in der man Außenpolitik sehr gepflegt als Außenkultur- und Außenwirtschaftspolitik betreiben oder auch zelebrieren konnte – aber eben nicht als Hardcore-Machtpolitik im Haifischbecken des Stärke-vor-Recht-Prinzips, das über weite Strecken (leider immer noch) ein Normalfall ist.

Die Friedensbewegung und die Linke konnten eine in dieser Weise eingeschränkte Außenpolitik mit ihren Positionen flankieren und auch eine durchaus wichtige und richtige Kritik- und Korrektivfunktion übernehmen, zum Beispiel was eine (fortbestehende) Zweiteilung der US-Politik anbelangt, wonach sie selbst ihre Machtposition an vielen Orten der Welt heftigst ausspielt, gleichzeitig aber auch in vielen Teilen der Welt Garant für ein gerüttelt Maß an Rechtsstaatlichkeit und demokratischen Umgang ist.

Der Ukrainekrieg zeigt uns nun die „normale“ staatsexistenzielle Situation von Außenpolitik – und lässt diese auch für uns deutlicher aufblitzen: Was wäre, wenn der Chaot und Putin-Geldwäscher Trump jetzt noch US-Präsident wäre? Wie würde Deutschland (nachts alleine zuhaus) dastehen, mit seinen mehr symbolischen, eigentlich nur die Teilnahme an der nuklearen Kommunikation ermöglichenden 20 Atombomben in Büchel, und einer desolaten Bundeswehr, die eher mit sich selbst beschäftigt ist.

Der Ukrainekrieg lehrt uns viel über eine Sondersituation, in der wir über 70 Jahre gelebt haben. Und sie lehrt uns viel über die tatsächliche Reichweite der Kritik am Westen. Denn im ernst: So groß und kritikwürdig dessen Mängel sind, es gibt keine faktisch existente Alternative – weder China mit milliardenfacher Bespitzelung und Millionen im Straflager, noch ein kleptokapitalistisches Russland, das einen blutigen Krieg nach dem anderen führt und dessen despotischer Präsident alle Alternativen zu seiner Person (Chodorkowski, Nemzow, Nawalny) durch Mord, Mordversuch, Lagerhaft und Exilierung systematisch ausschaltet.

Dass auch dieser Westen irgendwie verteidigt werden müsste (und dann auch gerne für seine Fehler weiter kritisiert werden kann) – dass es diese „existenzielle“ Dimension in der Außenpolitik also auch für uns gibt, das wäre etwas, was man aus dem – ansonsten nach wie vor ziemlich schrägen – Geissler-Zitat heute positiv mitnehmen sollte.

Über Reinhard Olschanski / Gastautor:

Geboren 1960, Studium der Philosophie, Musik, Politik und Germanistik in Berlin, Frankfurt und Urbino (Italien). Promotion zum Dr. phil. bei Axel Honneth. Diverse Lehrtätigkeiten. Langjährige Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Referent im Bundestag, im Landtag NRW und im Staatsministerium Baden-Württemberg. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Politik, Philosophie, Musik und Kultur. Mehr über und von Reinhard Olschanski finden sie auf seiner Homepage.