Über Russland und seinen gewählten Präsidenten wird in hiesigen Medien unendlicher spekulativer Müll produziert. Clickbaiting. Ich schicke also voraus: das letzte Mal war ich dort, als es noch Teil der UdSSR war, Ende der 80er Jahre. Das immerhin mehrmals, und auch in der Ukraine, Kiew und Lwiw, in letzterem auch mit damals schon russophoben Eindrücken, die wir noch als “Folklore” wahrnahmen. Ich bekam bei einem dieser Besuche eine ukrainische Sowjetfahne geschenkt – es war die Rote Fahne mit einem deutlich sichtbaren blauen Streifen am Stab. Bei einem Gastspiel von Borussia Mönchengladbach gegen Beuel 06 schwang ich diese Fahne im schönsten Stadion Bonns, dem Franz-Elbern-Stadion, zum Grusse des ukrainischen Stürmers Ігор Іванович Бєланов, der 1988 mit der UdSSR Vizeeuropameister geworden war (8 Tore in 33 Länderspielen). Er verstand das Fahnen-Understatement und winkte zurück.
Schöne Zeit, damals. Jetzt ist Krieg. Hier leben nicht mehr viele Deutsche, die wissen, was das ist. Die Flüchtlinge wissen es noch, die von den Medien, die jetzt die Waffen gerne selbst liefern würden, seinerzeit noch als “Schwemme” mehr gefürchtet wurden, als der Klimawandel und Meeresspiegelanstieg. Doch es nützt nichts, nur zu lästern und zu besserwissen. Dazulernen ist Pflicht. Ich habe es gestern mit drei Texten versucht. Alle drei von Männern, sicher kein Zufall. Einer immerhin von einer Frau interviewt.
Alexander Dubowy/Berliner Zeitung (= permanente Gefahr der digitalen Einmauerung) habe ich gelegentlich schon zur Lektüre empfohlen. “Putins letzter normaler 9. Mai: Jetzt bröckelt seine Macht – Putins Herrschaft gründet auf zwei Säulen: Stabilität statt 90er-Jahre-Chaos und identitätsstiftende Erinnerung an den II. Weltkrieg. Beides schwindet.” Ich stimme mit ihm in der Schwächediagnose des Putinregimes überein. Aus meiner Sicht erhöht das die Eskalationsgefahr zum Atomkrieg. Was tut so ein Regime, wenn es “nichts mehr zu verlieren” hat? Dubowy bevorzugt das pokernde Fazit: “Je länger und entschlossener sich die Ukraine mithilfe der – dringend benötigten – westlichen Waffenlieferungen gegen Russland zu wehren vermag, desto geringer wird der Preis sein, den die Ukraine und letztlich auch der Westen für den Frieden zahlen muss.” “Die Ukraine” und “der Westen” müssen nur zahlen. Derweil sterben echte Menschen, und davon viele. Die Überlebenden tragen Traumata davon. Sind die gar erwünscht?
Alexey Sakhnin/taz stützt die Schwächediagnose. Ich neige dazu sie zu teilen. Das treffende Bild von der “Bestie” hat einen schreckenerregenden Haken. Das Russlandregime, das jetzt kämpft und bekämpft wird, ist nicht mehr als ein illegitimes, missratenes, schlecht erzogenes und gebildetes Geschwisterkind des westlichen Kapitalismus. Jetzt verlangen seine Oligarchenverbrecher “die gleichen Rechte”, wie sie Hiesige selbstverständlich, aber überwiegend weit diskreter und besser erzogen, geniessen. Egal, ob und wie dieser Krieg “ausgeht”, können sich alle Hoffnungen auf “Lehren” aus ihm grausam als hirnvernebelnde Seifenblasen entpuppen.
Meine gedankliche Verarbeitung Sakhnins wird durch ein FR-Interview von Bascha Mika mit dem Exilanten Boris Groys gestützt. “Weil Russland ein kapitalistisches Land ist, kann man sich nicht vorstellen, dass jemand etwas aus Überzeugung tut.” Aus der New Yorker Exilperspektive mag er nicht immer auf Ballhöhe tagesaktueller Entwicklungen und Kräfteverhältnisse sein. Aber wie jeder Flüchtling ist er extrem gedankenvoll, und die*der Leser*in profitiert davon.
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