NRW hat gewählt und das letzte Schwarz-Gelbe Bündnis wurde abgewählt. Das markiert, so der Politikwissenschaftler Florack das Ende der längst überkommenen politischen Arithmetik – nach Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein, Thüringen, Hessen, Rheinland-Pfalz und dem Bund das Ende der politischen Lager und damit das Ende der “Bonner Republik”. Die unbestrittenen Wahlsieger sind die Grünen, die ihr Ergebnis nahezu verdreifacht haben und die CDU, die sich trotz eines relativ blassen Ministerpräsidenten Wüst als einzige Partei neben den Grünen verbessern konnte.
Für die SPD ist das Ergebnis schlecht – aber die Berliner Journalist*innen, die am Montag vermutlich wieder versuchen werden, das schlechte Abschneiden der Sozialdemokraten Bundeskanzler Scholz zuzuschreiben, werden durch Umfragen widerlegt, die Scholz – im Gegensatz zu Lindner und Merz – keineswegs eine negative Rolle im Wahlkampf NRW zuschreiben. Die SPD muss die Ursache vielmehr beim Spitzenkandidaten Kutschaty suchen. Der geschätzte Kollege Ulrich Horn hat dies in einigen Beiträgen hier frühzeitig, geradezu prophetisch beschrieben.
Die “kleinen” Verlierer
Neben der SPD ist die FDP klarer Verlierer der Landtagswahl. Kostete 2017 die Schulpolitik von Sylvia Löhrmann die Grünen beinahe den Wiedereinzug in den Landtag und einen Absturz auf das zweitschlechteste Wahlergebnis seit 1990, wurde die FDP von ihrer Schulministerin Yvonne Gebauer derart in den Abgrund gezogen, dass sie sich mit Ach und Krach vor der 5%-Hürde mit 5,9% in Sicherheit bringen konnte. Die AfD konnte sich ebenfalls mit 5,4% knapp vor dem Abstieg retten – trotzdem ist es im zutiefst demokratischen NRW eine andauernde Schande, dass Neonazis und Rechtspopulisten im Landesparlament vertreten sind. Die Linke, 2017 noch mit 4,9% knapp am Wiedereinzug in den Landtag gescheitert, ist in NRW offensichtlich inzwischen mit 2% marginalisiert.
NRW gegen den Bundestrend
Trotzdem sind Interpretationen, dass die NRW-Wahl nun eine “Trendwahl” oder “Schlüsselwahl” für den Bund sei, nicht angebracht. Denn zum einen gibt es seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland eine Tendenz, dass der Bund und NRW als bevölkerungsstärkstes Bundesland genau gegen den Bundestrand regiert wird. Während der Regentschaft Adenauers bildeten sich in NRW die ersten sozialliberalen Koalitionen. Während Helmut Kohl mit Genscher 16 Jahre Schwarz-Gelb regierte, beherrschte die SPD, ab 1995 Rot-Grün, das größte Bundesland. Mit der Wahlschlappe Steinbrücks 2005 und dem Desaster von Rot-Grün 2017 wurde die ehemals rote Hochburg oder “Herzkammer der Sozialdemokratie” zum “Swing State”, den mal das eine (rot), mal das andere Lager (schwarz) erobern kann. Grün ist noch nicht so weit.
Ursachen des NRW-Wahlausgangs
Eine nähere Beschäftigung mit den Wählenden-Bewegungen lässt Schlüsse auf die Ursachen dieser Wahlergebnisse zu. So wanderten 330.000 Stimmen von der SPD zu den Grünen – was 25% der Zuwächse entspricht, – weitere 320.000 gewann die Ökopartei von Nichtwählern, sogar 100.000 wechselten von der FDP zu den Grünen. Der grüne Gewinn von der SPD liegt in der Person Kutschaty begründet, der für viele, innerparteilich für die “alte SPD” des Landesverbandes steht. Anders als Bärbel Bas, die ihren Wahlkreis rockt oder Karl Lauterbach, der vor Ort verankert ist, aber darüber hinaus politisch-inhaltlich überzeugt, ist Kutschaty einfach Provinzpolitiker, der in seiner Zeit als Justizminister nicht durch besondere Ideen – z. B. Entkriminalisierung von Drogen oder Täter-Opfer-Ausgleich oder Initiativen zur Haftvermeidung bei Bagatelldelikten, also Reformkonzepte, in Erscheinung getreten wäre.
Grüne bei Zukunftskompetenzen uneinholbar vorn
Kein Wunder, dass die Grünen bei der Landtagswahl als die Partei vor allen anderen angesehen wurde, die die Probleme am kompetentesten löst: Klima- und Umweltpolitik: 56 %, Energiesicherheit: 26%, Verkehrspolitik: 24% – im generellen Parteienvergleich der Zukunftskompetenzen landeten die Grünen auf Platz 1 mit 24%, die CDU bei 16%, die SPD bei 15% und die FDP bei 6%. Natürlich färbt hier auch einiges vom Bund auf NRW ab. Während die Grüne Politiker*in Baerbock und Habeck mit 69 % und 64 % Zustimmung der Bürger*innen zu ihrer Politik der Landespartei Unterstützung leisten konnten, ist die Rolle von Olaf Scholz mit 50 % Zustimmung eher neutral zusehen – auf etwas weniger kommt Lindner mit 44%. Merz dagegen mit lediglich 32% Zustimmung zu seiner Politik fällt dagegen deutlich ab. Seine Tage als Hoffnungsträger der CDU im Bund dürften gezählt sein.
Konsequenzen aus dem NRW-Ergebnis
Die Grünen sind die eindeutigen Gewinner der Wahl in NRW. Wenn sie es klug anstellen, können sie nur gewinnen. Die NRW-CDU ist, was das Umsteuern in der Umwelt- und Energiepolitik betrifft, beweglicher als die SPD, die in alten Strukturen der RWE und E-ON mehr verhaftet ist, als die Christdemokraten. Abstandsregeln, die den Ausbau der Windenergie bisher verhinderten, waren vor allem auf den Widerstand der FDP zurückzuführen. Schwarz-Grün ist die wahrscheinlichere Koalition gegenüber einer Ampel, zumal die angeschlagene FDP zunächst mit sich selbst beschäftigt sein wird. In der Sozialpolitik werden traditionelle Strukturen der CDA-Sozialausschüsse, für die etwa Gesundheitsminister Laumann steht, ebenso Berührungspunkte ergeben, wie sie die SPD bieten würde. Da eine Zusammenarbeit mit der SPD nicht ohne die FDP machbar wäre, diese aber in zentralen sozialen, ökologischen und finanzpolitischen Fragen als Blockierer einer Ampel auftreten würde, ist schon heute vorauszusehen, dass die potenziell “linkere” Politik in NRW durch Schwarz-Grün gegenüber einer Ampel möglich wäre. Bleibt die Innen- und Rechtspolitik, wo die freiheitlich-liberale Verena Schäffer dem “Hardliner” Herbert Reul gegenübersteht. Da Schäffer aber angekündigt hat, kein Ministeramt anzustreben, sondern Fraktionsvorsitzende bleiben zu wollen, liegt hierin eine große Chance, dass sie – wie schon in der 11. Wahlperiode zwischen Rot-Grün – in direkter Kooperation kontrollieren wird, dass der Innenminister nichts unternimmt, was nicht durch die Koalitionsvereinbarung gedeckt ist.
Grüne in optimaler Situation – FDP im Dilemma
Bei aller Freude über das gute Abschneiden der Grünen muss es Sorge bereiten, wie es zum Absturz der FDP kam, und wie dieser sich auf die Ampelkoalition in Berlin auswirken könnte. Sicher hat der kleine Seitenhieb von Christian Lindner gegen seinen Nachfolger Joachim Stamp, der auf das Wahlergebnis rekurierte, politische Bedeutung. Alle wichtigen und profilierten Liberalen des Landesverbandes NRW, von Lindner über Strack-Zimmermann, Buschmann, Vogel, Fricke, Graf Lambsdorff, haben sich im Bundestag engagiert. Stamp und vor allem die glücklose Gebauer haben das schlechte Ergebnis der FDP an Rhein und Ruhr zu verantworten. Das kann zu Personaldiskussionen führen. Wesentlich entscheidender ist aber die Erkenntnis, dass die FDP vor der Frage steht, wie sie ihre zukünftige Rolle finden will. Denn inhaltlich sind ihre Themen Entbürokratisierung, Steuerpolitik, liberaler Rechtsstaat, sichere Rahmenbedingungen für die Wirtschaft, Einführung von Zukunftstechnologien und Digitalisierung durch die Grünen abgeräumt oder aufgesogen. In der Bildungspolitik hat sie in NRW ausdrücklich versagt. Dass nur 6% der Bürgerinnen und Bürger glauben, dass die FDP für Zukunftsthemen steht, spricht für sich.
Abschied von der rechten Blockpartei notwendig
Das eigentliche Dilemma der Liberalen liegt in ihrer herkömmlichen Verortung im Parteiensystem. Seit der “Wende” von 1982 von der sozialliberalen Koalition hin zur CDU hat die FDP sich über Jahrzehnte als so zuverlässiger wie einseitiger Koalitionspartner der CDU und damit Teil des “bürgerlichen Lagers” definiert. Mit der Jamaica-Koalition in Schleswig-Holstein und den Ampelkoalitionen in Rheinland-Pfalz und seit 2021 im Bund hat sie die eingefahrenen Gleise verlassen und – ganz im Sinne des Endes der alten Bonner Republik – neue Reformkoalitionen ermöglicht. Die NRW-FDP hat dagegen auf Landesebene an alten Zöpfen festgehalten und sich auf Schwarz-Gelb fixiert. Das ist dem traditionell stärksten Landesverband der Liberalen nun auf die Füße gefallen und wird zwangsläufig personelle und programmatische Erneuerungen erfordern, will die FDP in Zukunft mehr sein, als Mehrheitsbeschafferin der CDU.
Der Autor schreibt: Seit der “Wende” von 1982 von der sozialliberalen Koalition hin zur CDU hat die FDP sich über Jahrzehnte als so zuverlässiger wie einseitiger Koalitionspartner der CDU und damit Teil des “bürgerlichen Lagers” definiert.”. Warum er “bürgerliches Lager” in Anführungszeichen setzt, ist (mir) nicht ganz klar. Hält es den Begriff “bürgerlich” generell für unzutreffend oder etwa nur speziell für CDU und FDP? Zutreffend wäre allerdings, alle nun im Landtag vertretenen Parteien von den “Grünen” bis hin zur AfD als “bürgerlich”, weil Unterstützer der kapitalistischen Ordnung, zu bezeichnen. Die SPD war einst eine – ja “die” – Arbeiterpartei. 1914 hörte sie mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten und der Einordnung in die Volksgemeinschaft (Kaiser Wilhelm II.: “Ich kenne keine Parteien mehr, sondern nur Deutsche”) auf, eine Arbeiterpartei im politischen Sinn zu sein, blieb aber eine im soziologischen Sinn, eine “bürgerliche Arbeiterpartei” also. Auch diesen Charakter hat sie nach WK II Schritt für Schritt verloren. In Hinblick auf die großen Fragen der Gegenwart und Zukunft (Krieg und Frieden, Umwelt) macht es letztlich keinen Unterschied, welche dieser Parteien gewinnt. Ich glaube nicht, dass die wachsende Zahl der Nichtwähler sich dieser Begründung bewusst ist, aber sie fühlt zurecht entsprechend. Es gibt ja auch den bekannten Anarchospruch “Wenn Wählen was ändern würde, wäre es verboten”. Das eine oder andere relativ Nebensächliche würde es allerdings schon ändern, aber das Hauptargument für eine Beteiligung an Wahlen (wenn man mal davon absieht, dass man vielleicht seine Spezis ordentlich in Brot und “Ehren” bringen will) ist, dass sie geeignet sein könnten, einer aktiven (Klassen-)Bewegung moralischen Auftrieb zu geben. Eine solche gibt es in der BRD allerdings heute nicht. So bleibt nur der rein symbolische Nutzen zu zeigen, dass man nichts mit irgendeiner bürgerlichen Partei (dazu gehört zunehmend auch die gerade im Zerfallsprozess befindliche “Linke”) zu tun haben will.
Hm. Ich staune, wieviel Spekulatius’ zwischen zwei Anführungszeichen passen.
Nun ist es mir doch einmal ein Bedürfnis, mich auf das intellektuelle wie emotionale Niveau des Herrn Appel herabzubegeben und zurückzufragen, mit wieviel Nichts man 2 1/2 Zeilen füllen kann.