Was ist eigentlich das genaue aktuelle Kriegsziel der Ukraine, für das sie von der EU und den USA unterstützt wird? Ist es die Selbstverteidigung der Ukraine, um möglichst den Preis für den Aggressor hoch zu treiben, und ihn zu Verhandlungen und zu einem Waffenstillstand zu zwingen? Geht es noch um die Vorschläge von Präsident Selenskij, der eine Neutralität der Ukraine und einen Kompromiss in Sachen Donezk und Luhansk angeboten hat?
Oder geht es um eine Selbstverteidigung der Ukraine, deren Regierung zu glauben scheint, dass sie Russland ganz aus der Ukraine vertreiben könnte? Auch von der Krim, dem Hafen der russischen Kriegsmarine? Das könnte mehrere Jahre dauern. Oder geht es um die Führung eines langwierigen Stellvertreterkriegs, der auf die militärische und ökonomische Schwächung Russlands und einen Regimewechsel zielt – egal wie hoch die Verluste der Ukraine als Kriegsschauplatz und Europas Wirtschaft noch sein werden?
Ist die Dauer des Krieges längst auf “unendlich” gestellt?
Wenn Kriege wie der aktuelle in der Ukraine beginnen, hat vorher die Politik versagt. Das hört die Politik nicht gerne und diffamiert deswegen Kritiker*innen als “Putinversteher”. Doch hilft es in Wahrheit überhaupt nicht, Putin zum Alleinschuldigen zu erklären, weil es nichts ändert. Wer dabei stehen bleibt, macht es sich zu einfach, denn das macht Putin mit dem Westen bei sich im Land auch. Da es keinen übergeordneten Schiedsrichter gibt, die UNO keine wirkliche Macht hat und es auch äußerst unwahrscheinlich ist, dass sich Putin freiwillig dem internationalen Strafgerichtshof in Den Haag ausliefert, hält dieser Zustand und damit der Krieg an. Obwohl seine Schäden an Menschen, Infrastruktur und Klima auch außerhalb des Kriegsgebietes das objektive Maß des Erträglichen bereits jetzt überschritten haben.
Nicht objektive Zerstörung, subjektiver Wille der Kombattanten entscheidet
Und eine multipolare Welt mit ökonomischen Schwergewichten und der Mehrheit der Weltbevölkerung richtet sich auch nicht mehr wie in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts nach “dem Westen” aus. Da kann der Kanzler noch oft nach Indien, Südafrika oder China reisen, das ändert nichts daran, dass sich diese Staaten in einem ökonomischen Bündnis der BRICS Staaten – mit Russland und Brasilien befinden, das diese nicht aufs Spiel setzen werden – nicht zuletzt als Reaktion auf den exklusiven G 7 Club der – kolonialistischen Ökonomie.
Es sei denn, Joe Biden, Scholz und Macron sowie Xi Jingping erdenken eine – wahrscheinlich schmutzige – Lösung, die den Interessen aller Seiten und dem ökonomisch und ökologisch betroffenen Rest der Welt in irgendeiner Weise gerecht wird. Das ist absehbar momentan nicht der Fall, weil alle Beteiligten und Unterstützenden in Gesamteuropa einschließlich Russland und den USA meinen, diesen Krieg weiter führen zu müssen. Auch dafür wird sich die Schuld gegenseitig zugeschoben, ist aber wiederum für eine Lösung irrelevant, dient ausschließlich der ideologischen Mobilisierung der jeweils eigenen Bevölkerung für die Fortsetzung des Krieges auf beiden Seiten.
Verhandlungen erst, wenn Zerstörung und Grausamkeit unbezahlbar werden?
In diesem Krieg werden demzufolge erst ernsthafte Verhandlungen beginnen, wenn für eine Seite der Grenznutzen – Verlust von Menschenleben, Kriegsmaterial, Nahrung, Zerstörung von Infrastruktur, Umwelt und Industrie, untragbare Kosten, Sozialabbau in den kriegsführenden und unterstützenden Gesellschaften – erreicht ist. Jede Waffenlieferung treibt erst einmal diese Spirale nach oben. Wann und ob es für Russland so teuer wird, dass es innehält, wissen wir nicht. Leidtragende sind auf jeden Fall die Ukrainer*innen, mit jedem Tag, den der Krieg dauert, um so mehr. Aber auch für den Westen gibt es diese Schwelle. Wenn Baerbock von “Kriegsmüdigkeit” spricht, die es nicht geben dürfe, fürchtet sie zurecht, dass trotz verpuffendem Tankrabatt für die Mineralölkonzerne und 9-Euro Ticket, die von Vonovia angekündigten Mieterhöhungen und 7-8 Prozent Inflation schneller wirklich werden, als Ampelkoalition, EU und NATO hinschauen können. Das könnte zur Folge haben, dass in vielen EU-Ländern der soziale Frieden und die Bereitschaft, die Ukraine zu unterstützen, bröckeln werden. Und auch für die Rolle der viertgrößten Exportnation des Weltwirtschaftssystems, von der die ganze EU profitiert, könnte in dieser multipolaren Weltordnung schwinden. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass sich Polen, Ungarn und die anderen EU-Staaten Osteuropas, die sich derzeit so gerne an Deutschland (und Frankreich) abarbeiten, während sie die EU-Fördermittel kassieren, bei anhaltendem Krieg noch umschauen werden müssen, woher ihre EU-Subventionen kommen, von denen sie so gerne profitieren.
Uneinigkeit über Kriegsziele – der Westen versucht zu bremsen
Eine wesentliche Ursache für diese Schwäche der Bundesregierung, der EU und der NATO ist die in Wahrheit fehlende Einigkeit über ein Kriegsziel seitens der Unterstützer und der Ukraine. Nicht zuletzt aus Respekt vor der Souveränität der Ukraine und medialen Kulisse, die Selenskij und seine Medienspezialisten im Westen aufgebaut haben, wird darüber nicht offen kommuniziert. Aber natürlich gibt es solche Grenzen und rote Linien. Sie wurden klar sichtbar, als Polen vorschlug, MIG 29 Maschinen aus NVA-Beständen von Ramstein aus in die Ukraine zu bringen. Das hätte als Eingriff der NATO in die Lufthoheit über der Ukraine und damit einen direkten Kriegseintritt interpretiert werden können. Sie wurden auch sichtbar, darin, dass die USA für ihre Raketenwerfer ausschließlich Munition mit beschränkter Reichweite auf 40 km liefern. Die NATO versucht nicht nur zu verhindern, dass die Ukraine Krieg über ihre eigenen Landesgrenzen hinaus führen könnte. Sie muss im Eigeninteresse zur Einhegung eines begrenzten Krieges, in dem sie als indirekter Waffenlieferant knapp am Kombattantenstatus vorbeirutscht, verhindern, dass etwa die Ukraine mit Leopard 2 Panzern die Grenze nach Russland überschreitet.
Militärische Vorsicht vor Eskalation versus politische Kriegsrhetorik
Die Kehrseite dieser Medaille ist offensichtlich, dass Teile dieser Allianz quer durch die EU und quer durch die Regierungen sich derzeit von der richtigen und gebotenen Unterstützung des Selbstverteidigungsrechts der Ukraine in einen irrealen Siegesoptimismus hinein steigern. “Putin darf mit seiner Aggression nicht erfolgreich sein” (der Bundeskanzler) ist etwas anderes, als: “Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen” (Ursula v.d. Leyen) oder: “Die Ukraine muss siegen” (Annalena Baerbock). Die Torheit beider letzterer Positionen besteht darin, Kriegsziele zu formulieren und zu befeuern, die die Ukraine auch bei extremster Hochrüstung realistisch kaum erreichen kann – und damit auch die Hoffnungen auf eine in Augen der ukrainischen Regierung im Volk vermittelbare Verhandlungslösung immer höher getrieben wird.
Eskalationsrisiko durch unrealistische Vorgaben
Nicht nur die kalten Krieger der CDU/CSU, Norbert Röttgen und Kiesewetter, sondern auch Ursula von der Leyen und Annalena Baerbock halten derzeit der ukrainischen Regierung, der EU und damit sich selbst mit der ein Kriegszielverschärfendes Stöckchen hin, über das die Ukraine alleine schon gar nicht und die NATO nur auf Kosten eines eigenen Kriegseintritts springen könnte, den doch alle vermeiden wollen. DAS ist die eigentliche, immer konkreter werdende realpolitische Gefahr nach 104 Tagen Krieg! Dieses “Pfeifen im Walde” der beiden Spitzendiplomatinnen ist auch deshalb erstaunlich, weil es der EU dank Viktor Orban ja nur mit Ach und Krach gelungen ist, ein Teil-Ölembargo gegen Russland um den Preis der Verschonung des wichtigsten Komplizen Putins im Pfaffenrock – Kyrill dem ehemaligen KGB-Agenten – zu beschließen.
Was begründet solche Siegesparolen?
Die Lage in der Ukraine klingt nämlich bei der langjährigen Leiterin des Nato Foresight Teams, Dr. Stefanie Babst, ganz anders. Babst, die bis vor Kurzem ranghöchste Frau in der europäischen NATO, kommt zu gänzlich anderen Erkenntnissen als Selenskyj. Demnach hat die Ukraine keineswegs der russischen Armee “das Rückgrat gebrochen”, wie dieser vor einigen Tagen erklärte, sondern – im Gegenteil – die ukrainischen Streitkräfte drohen von eben jener Armee derzeit erwürgt zu werden. Frau Babst spricht von der Boa-Constrictor-Strategie:
“Die Russen sind von drei Seiten auf die Ukraine losgestürmt und versuchen jetzt nicht nur militärisch die ukrainischen Streitkräfte zu dezimieren, sondern auch mit wirtschaftlichen Mitteln die Versorgungslinien abzuschneiden. Man sieht das ganz deutlich im Süden am Asowschen Meer und am Schwarzen Meer: Drei Hafenstädte wurden bereits eingenommen. Die letzte noch verbleibende freie ukrainische Hafenstadt Odessa liegt unter Belagerung.“ Sie erläutert den tieferen Sinn dieser militärischen Operation: “Das bedeutet, dass es für die Ukraine keine Handelsmöglichkeiten mehr gibt. Die Häfen sind blockiert, vermint und vor dem Hafen von Odessa lauern die russischen Kriegsschiffe. Das ist eine ziemlich prekäre Situation, auch für die weitere zentrale Versorgung der Ukraine.“
Putins Replik auf die Forderung, Getreide freizugeben
Zu dieser prekären Situation hat sich vergangene Woche Putin dahingehend geäußert, einen humanitären Korridor für ukrainisches Getreide durchaus erwäge, dafür aber eine Aussetzung der westlichen Embargomaßnahmen fordere. Die Bereitschaft des Westens, darauf einzugehen, geht gegen null. Darin liegt für Europa ein hohes Risiko. Für den Präsidenten der Afrikanischen Union hatte die EU bisher nur ein “Putin ist schuld” parat. So macht sich Europa in Afrika Freunde! Und überlässt zumindest den Anschein konstruktiven Verhandelns dem “kleinen Sultan” Erdogan. Diplomatisch töricht für Baerbock, Genscher würde dafür Note 5 – 6 in Außenpolitik geben.
Zurück in die Ukraine: Zählt man die ebenfalls besetzten Republiken Donezk und Luhansk im Südosten der Ukraine und die bereits 2014 von Russland eroberte Krim dazu, dann, sagt Frau Babst, bleibt nur noch ein ukrainischer Rumpfstaat übrig. Das sei das eigentliche Ziel der russischen Generalität: “Russland will die Ukraine in einen Rumpfstaat verwandeln, ohne Anbindung zur See und ohne die wirklich sehr wichtige industrielle östliche Basis, also im Donbass.“ Zugleich stoße Russland immer wieder militärisch auch in den Westen der Ukraine vor, mit dem aus ihrer Sicht klaren Ziel: “Die russische Regierung möchte damit das Stresslevel in der ukrainischen Bevölkerung weiter hoch halten. Es ist schrecklich, unter andauerndem Beschuss oder Sirenenalarm zu leben .“
Tapferkeit der Ukraine – wie lange?
Das Signal wirkt. Laut Angaben der Vereinten Nationen sind bereits 6,2 Millionen Ukrainer geflohen. Der ukrainische Rumpfstaat entkräftet sich. Worauf gründen von der Leyen und Baerbock ihren Optimismus, dass die Ukraine “siegen” könne? Was wissen sie, was wir nicht wissen? Oder schaukeln sich politisch Verantwortliche hier in einem grausamen Krieg in ihren Wunschvorstellungen gegenseitig immer höher? Anhaltspunkte dafür sind die Momente, in denen z.B. Polen und der ukrainische Botschafter Melnik wieder das Vorwurfskarusell gegen die deutsche Bundesregierung anwerfen, die angeblich zu wenig, zu langsam und böswillig verzögernd Waffen liefere, worauf ihnen die ebenfalls in der “Berliner Käseglocke” sitzenden Journalist*innen prompt beispringen und die Politiksimulanten Maischberger, Lanz und Will für die ideologische Vertiefung in der Vox Populi sorgen. Aber das schafft der Ukraine keinerlei Kriegsvorteil, erinnert eher an die “Erfolgsmeldungen” der USA in Vietnam nach 1969.
Russland kommt viel langsamer voran, als geplant
Dabei ist doch die russische Invasion in zuvor nie geglaubter Weise zum Stehen gekommen bzw. verzögert worden. Darin und im immer langsameren und mühevolleren Vormarsch der russischen Truppen liegt eine krachende Niederlage für Wladimir Putin. Das versteht der Westen aber nicht, als Erfolg zu begreifen. Putin meint, dass ihn das nicht interessieren muss, solange es in Russland keine Presse gibt, in der solche Nachrichten durchsickern und die Landbevölkerung und Veteranen ohnehin alles glauben, was die Staatsmedien verzapfen. Um so wichtiger wäre es für den Westen, die bisherigen Erfolge, Russland aufzuhalten als den Sieg über die Kreml-Nomenklatura darzustellen, der er ist. Dazu bedürfte es aber einer Verständigung der EU, der NATO, der USA und der Ukraine über das Kriegsziel. Und dass dies bisher unterblieben ist, entpuppt sich auf Dauer als fataler Fehler. Genscher: Note 6 in Bündnispolitik.
Kriegsziele und Kriegsfolgen analysieren
Paul Schäfer, Ex-MdB der “Linken”hat hier auf diesem Blog in seinem Artikel vom 24.4. 2022 fünf Szenarien des Kriegsverlaufs gezeichnet. So wie hier versucht wird, verschiedene Szenarien für Kriegsziele zu analysieren, betrachtet Schäfer unterschiedliche Verläufe und mögliche Ergebnisse oder besser Kriegsfolgen. Zu den Kriegsfolgen gehört auch das Risiko, das ein Staat oder Bündnis einzugehen hat, um die Nachkriegsordnung im Auge zu behalten oder voraus zu denken. Äußerungen, wie die von Bundesaussenministerin Baerbock am 11. Mai, Deutschland werde “nie wieder Energie aus Russland” beziehen, machen deutlich, dass die Urheberin den möglichen Kriegsverlauf bisher nicht vom Ende her bedacht hat. Das ist fatal und kurzsichtig. Denn Russland wird weder von der Karte Europas verschwinden, noch wird selbst eine militärische Niederlage Putins alle Partner einer Friedenslösung nicht der diplomatischen Notwendigkeit eines gesichtswahrenden Umgangs und einer die Interessen ausgleichenden politischen Lösung entledigen. Denn aus dem Versailler Abkommen und seinen Folgen sollten alle gelernt haben.
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