Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) hat gestern erklärt, dass das Bahnnetz grundsätzlich modernisiert werden muss. Er orientiert sich dabei an Hightech-Strecken der ÖBB und macht es zur Chefsache. Ob die Gründung einer Bahn-Entwicklungsgesellschaft für die Bahninfrastruktur da Abhilfe schaffen kann, wird man sehen. Wissing räumte aber indirekt ein, dass die neoliberalen Börsenpläne für den Bahnkonzern ganz entscheidend dazu beigetragen haben, dass die Bahn heute über ein marodes, veraltetes und verkommenes Schienennetz verfügt – Ursache von Innovationsstau und Verspätungen.

Der Innovationsbedarf, den Verkehrsminister Wissing im Milliardenbereich sieht, ist evident und offensichtlich. Analog zur Bundeswehr bedeutet das, dass die notwendigen Investitionen Milliarden verschlingen werden. Dasselbe gilt natürlich für die Brücken des Bundesverkehrswegenetzes. Auf der A 45 im Sauerland und auf dem Kölner Ring in  Leverkusen erlebt die neoliberale Ideologie der letzten 40 Jahre nun ihr realpolitisches Desaster.  Tausende von Brücken der Bundes- Landes- und kommunaler Straßen sind marode und sanierungsbedürftig. Die FDP erlebt in spiegelverkehrter Weise, was Robert Habeck als Wirtschaftsminister für die Grünen tun muss:

Innovationsbedarf in dreistelliger Milliardenhöhe

Wegen Putins Invasion und Gaskrieg muss Habeck für beschränkte Zeit für Fracking-Gas und verlängerte Kohlekraftwerke kämpfen und grüne Ziele zeitweise zurückstellen. Das bringt den Grünen viel Häme ein und die Interessenvertreter der Atomindustrie und die üblichen Talkmaster und Politiksimulator*inn*en von Illner bis Will – übrigens nicht die AKW-Betreiber – schwadronieren über eine unsinnige Verlängerung der AKW und gebärden sich wie ein übergelaufener Verteidiger im Strafraum mit einem Foul, das ohnehin nur zum Elfmeter führt.

Milliardeninvestitionen nun mit hohen Zinsen

Volker Wissing muss konstatieren, dass die Ideologie, die seine Partei jahrelang gepredigt hat, von der Privatwirtschaft, die angeblich alles besser kann, vom schlanken Staat, der ohne kompetente Bauingenieur*innen und Planer*innen auskommt – es gibt niemanden mehr, der qualifiziert ausschreiben oder die Qualität von Planungen und Bauleistungen kontrollieren kann – die Ursache des heutigen Desasters der Infrastruktur ist. Der Neoliberalismus hat den strukturellen Niedergang der Infrastruktur der viertgrößten Export-Wirtschaftsmacht der Erde verursacht. Er wurde jahrzehntelang trotz niedrigster Zinsen für Investitionen nicht beseitigt. Die “schwarze Null” als Fetisch der Austeritätspolitik von Merkel und Westerwelle, Schäuble und Scholz,  hat mehrere hundert Milliarden Schulden in Form von Investitionsruinen der Infrastruktur angehäuft. Nun werden sich die Kosten vervielfachen.

Ideologischen Ballast abwerfen – in der Realität ankommen

Es ist vielleicht Ironie der Geschichte, dass die FDP auf diese Weise in den Bereich ihrer Verantwortlichkeit innerhalb der Ampelkoalition als Aufgabe auf den Tisch bekommt, was ihre jahrzehntelangen, schon vergessenen Protagonisten wie Otto Graf Lambsdorff, Bange- Hauss- und Möllemann, Rexrodt, Brüderle und Rösler der Infrastruktur des Landes eingebrockt haben. Ohne jede Häme ist zu hoffen, dass gerade die Ampelstruktur dieser Regierung die Chance beinhaltet, dass der Erkenntnisprozess innerhalb der FDP reift, dass der Neoliberalismus ein ideologischer Irrweg war, der einer der leistungsfähigsten Volkswirtschaften dieses Planeten ihre Infrastruktur ruinieren konnte.

Zurück in die Zukunft…

Bleibt zu hoffen, dass die FDP einem Prozess teilhaftig wird, der im “Manifest für eine liberale Politik” ihrer damaligen linken Jugendorganisation, der Jungdemokraten, von 1971 in einem Schlüsselsatz formuliert wurde: “Der menschliche Erkenntnisprozess ist prinzipiell unabschliessbar.” Die Konsequenzen aus diesem ökonomischen Desaster hat die FDP übrigens selbst einmal entworfen, sich aber dagegen entschieden: Die “Perspektivkommission” unter Gerhart Baums Leitung hat 1977 ein Programm vorgelegt, das den Kapitalismus reformieren und den politischen Liberalismus in Umwelt- Sozial- und Energiepolitik voranbringen sollte. Es wurde damals von den Neoliberalen niedergestimmt und führte im Ergebnis zur Gründung  und zum politischen Erfolg der Grünen.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net