Das Freihandelsabkommen EU-Mercosur dient vor allem der Autoindustrie
Die gemeinsame Handelspolitik gehört zu den am stärksten von Konzerninteressen dominierten Ressorts der Europäischen Union. Wie sehr sich die Europäische Kommission und das deutsche Wirtschaftsministerium dabei mit Unternehmenslobbys abstimmt, zeigt eine neue Studie zum EU-Handelsabkommen mit dem Mercosur, dem Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay angehören. Die von mehreren Nichtregierungsorganisationen, darunter Greenpeace, Misereor und Attac, im Juni 2022 herausgegebene Publikation untersucht die besonders enge Kooperation der Ministerialbürokratie mit der europäischen Automobilindustrie und deren Niederschlag in den bisher veröffentlichten Teilen des Handelsvertrags.
Anders als gemeinhin vermutet wird der Lobbyismus nicht immer einseitig von den Konzernen betrieben. So gingen im Fall des EU-Mercosur-Abkommens Beamt*innen der EU-Kommission und des Wirtschaftsministeriums pro-aktiv auf Verbände der Autoindustrie zu, um deren Wünsche zu erfragen und in die Verhandlungen einzuspeisen. Das zeigt die Analyse von Dokumenten der Bundesregierung und der EU-Kommission, die durch Informationsfreiheitsanfragen zugänglich wurden.
Im Frühjahr 2017 etwa sandte eine Mitarbeiterin des Wirtschaftsministeriums eine E-Mail an den Verband der Automobilindustrie (VDA) zu den EU-Mercosur-Verhandlungen. Das Ministerium wollte insbesondere wissen, mit welchen Übergangsfristen die Zölle auf Seiten des Mercosur nach den Wünschen des VDA abgebaut werden sollen: „Daher bitte ich Sie“, heißt es in der E-Mail, „Ihre Mitgliedsunternehmen zu befragen, welche Übergangsfristen als geeignet erscheinen.“ Die Mitarbeiterin fügte hinzu: „Wir würden diese Position dann über die EU-Kommission in die Verhandlungen einbringen.“
“Ich kann Ihnen mitteilen …”
Nicht weniger zuvorkommend gab sich die EU-Kommission. Im Sommer 2016 lancierte sie eine Konsultation auf Grundlage eines ausführlichen Fragebogens, die sich exklusiv an die europäische Industrie richtete und an der auch Verbände des Automobilsektors teilnahmen. Die Antworten jedoch hielt sie unter Verschluss. Hinzu kommen diverse Treffen von Kommissionsvertreter*innen, darunter die ehemaligen Handelskommissar*innen Cecilia Malmström und Phil Hogan, mit den europäischen Verbänden der Autohersteller (ACEA) und der Zulieferindustrie (CLEPA).
Im Juni 2017 hielt EU-Kommissarin Malmström eine Rede bei einem Lunch-Meeting mit ACEA, in der sie die Zusammenarbeit mit der Autoindustrie bei der Beseitigung von Handelsbarrieren beschwor. Allein die Mercosur-Einfuhrzölle auf Autos und Autoteile kosteten europäische Unternehmen eine Milliarde Euro, so Malmström. In einem Brief an ACEA und CLEPA versicherte die EU-Kommissarin im Juli 2017, „dass die Sektoren der Autos und Autoteile eine Priorität der Verhandlungen über Zölle und nichttarifäre Handelsaspekte bleiben.“ Sie stimmte den Forderungen der beiden Verbände zum Zollabbau zu und ergänzte: „Ich kann Ihnen mitteilen, dass diese verschiedenen Gegenstände und Vorschläge mit dem Mercosur diskutiert werden.“
“Negative Botschaften” bekommen “zunehmende mediale Aufmerksamkeit” – Reverse Lobbying
Die öffentliche Kritik aber, die das Abkommen u.a. aufgrund der Menschenrechtsverletzungen und der Waldvernichtung unter Brasiliens rechtsextremem Präsidenten Jair Bolsonaro erfuhr, spiegelte sich ebenfalls in den Lobbygesprächen wider. So traf sich Cristina Rueda-Catry, Mitglied des Kabinetts von Handelskommissar Phil Hogan, im Dezember 2019 mit Vertreter*innen von ACEA, Daimler und Volvo und forderte sie dazu auf, „die Ratifizierung des Mercosur-Vertrags aktiv zu unterstützen, um ein Gegengewicht zu den negativen Botschaften zu schaffen, die eine zunehmende mediale Aufmerksamkeit bekommen“.
Insgesamt liefert das Vorgehen des deutschen Wirtschaftsministeriums und der EU-Kommission bei den EU-Mercosur-Verhandlungen einen Beleg für das Phänomen des „Reverse Lobbying“. Damit ist eine Umkehrung der Einflusskanäle gemeint, bei der öffentliche Behörden Unternehmen lobbyieren, damit die wiederum Behörden lobbyieren. Durch ihr „Reverse Lobbying“ bestätigen das Wirtschaftsministerium und die EU-Kommission letztlich selbst den Verdacht, sie würden mächtige Interessenverbände wie die Autolobby gegenüber anderen gesellschaftlichen Gruppen privilegieren.
Die vereinte Kraft von Industrie und Bürokratie schlägt sich auch in dem Vertragstext nieder. Mit einem großen Teil ihrer Forderungen haben sich die europäischen Herstellerverbände durchsetzen können, vor allem bei den Einfuhrzöllen auf Autos und Autoteile, die der Mercosur und die EU spätestens 15 Jahre nach Inkrafttreten des Abkommens vollständig beseitigt haben müssen. Weitere Vorzüge für die Autoindustrie betreffen die schrittweise Zollbeseitigung auf für sie wichtige Rohstoffe wie Eisen, Stahl, Kupfer, Blei, Lithium oder Leder.
Zollabbau für Entwaldung
Daneben fördert die EU die Einfuhr der besonders schädlichen Biotreibstoffe aus dem Mercosur: zum einen durch die Beseitigung von Zöllen auf Biodiesel, zum anderen durch eine Importquote für Bioethanol. Der Zollabbau bei Biodiesel begünstigt die Expansion der Sojafront und weitere Entwaldung vor allem in Brasilien, Argentinien und Paraguay, während die Bioethanolquote den Vormarsch der brasilianischen Zuckerrohrplantagen anheizt. Zudem provoziert der intensive Anbau von Soja und Zuckerrohr massive Landkonflikte mit Kleinbäuer*innen und Indigenen, die ihre traditionellen Territorien zu verteidigen versuchen.
Weitere Gewinne der Autoindustrie: Die Mercosur-Staaten verzichten weitgehend auf die Option von Exportsteuern auf wichtige Rohstoffe – eine potenziell bedeutende Einnahmequelle für die öffentlichen Haushalte, etwa bei der Ausfuhr von Soja, Biodiesel, Leder, Eisenerz oder Lithium. Zusätzlich gewähren sie großzügige Herkunftsregeln, die europäischen Autofirmen die zollbegünstigte Einfuhr von Produkten in den Mercosur ermöglicht, die größere Bestandteile aus Drittstaaten enthalten dürfen. Die aber lassen die Konzerne am Beginn ihrer Lieferketten häufig zu Niedriglöhnen und unter Verletzung von Arbeitsnormen herstellen.
In den Mercosur-Staaten wiederum verschärfen die in den EU-Exporten enthaltenen Billigprodukte den Wettbewerbsdruck und bedrohen dortige Arbeitsplätze. Daneben schwächt das Abkommen die Bemühungen, die Emissionen der Autoflotte zu reduzieren. Denn die Mercosur-Staaten willigen grundsätzlich ein, Tests und Zertifikate der Automobilzulassung anzuerkennen, die auf Basis der völlig unzureichenden europäischen Regulierungen erfolgen. Die schwachen Test- und Zulassungsverfahren in der EU erleichterten Autokonzernen wie Volkswagen aber nicht nur Abgasmanipulationen, sondern ermöglichen ihnen auch heute noch die Schönung ihrer Emissionsbilanzen.
Klimaschutz? Nachhaltigkeit? – eklatanter Mangel an effektiven Regeln
Nicht zuletzt profitiert die Autoindustrie von den defizitären Schutzinstrumenten des Vertrags, die dessen soziale, ökologische und menschenrechtliche Risiken vorgeblich eindämmen sollen. Hierzu zählen ein nicht-sanktionsbewehrtes sogenanntes Nachhaltigkeitskapitel, die fehlende Operationalisierung des Pariser Klimaschutzabkommens sowie ein eklatanter Mangel an effektiven Regeln zu unternehmerischen Sorgfaltspflichten oder entwaldungsfreien Lieferketten. Ferner muss befürchtet werden, dass das Abkommen mit einer nur schwachen Menschenrechtsklausel ausgestattet wird. Aufgrund all dieser Mängel sichert der Vertrag in erster Linie die Menschen und Umwelt schädigenden Lieferketten der Automobilwirtschaft ab, ohne in ausreichendem Maße auf deren sozial-ökologischen Umbau hinzuwirken.
“In Schwellenländern nicht realisierbar” – Dekarbonisierung und Verkehrsvermeidung abgewehrt
Damit aber erleichtert es der Vertrag der Autoindustrie auch, die nun zaghaft begonnene Dekarbonisierung des Verkehrssektors auszubremsen. Auf diese Weise verzögern die Konzerne den Ausstieg aus der klimaschädlichen Verbrennungstechnologie zugunsten von E-Autos nicht nur in der EU, sondern in noch stärkerem Maße in Ländern des Südens. So erklärte VW-Markenchef Ralf Brandstätter im März 2021, dass das von seinem Unternehmen für Europa angestrebte Datum für den Verbrenner-Ausstieg – zwischen 2033 und 2035 – in Schwellenländern nicht realisierbar sei. In Brasilien etwa repräsentiere das aus Zuckerrohr gewonnene Ethanol „eine effektive Brückentechnologie“ auf dem Weg zur Dekarbonisierung. VW werde dort daher ein Forschungs- und Entwicklungszentrum errichten, das sich den Biotreibstoffen speziell für Schwellenländer widmen soll. Das Motiv für die Unterstützung des Biotreibstoffpfads ist jedoch durchsichtig: Die Autoindustrie kann ihre bestehenden Investitionen noch länger nutzen, ohne modernisieren zu müssen.
Deutlich wird: Durch die systematische Begünstigung der Automobilwirtschaft behindert das EU-Mercosur-Abkommen die erforderliche Mobilitätswende. Dank ihrer handelspolitischen Stärkung erfährt die Branche einen weiteren Machtzuwachs, der es ihr ermöglicht, Maßnahmen zur beschleunigten Dekarbonisierung oder zur Verkehrsvermeidung abzuwehren. Zugleich fördert der Vertrag mit den Biokraftstoffen klimapolitische Scheinlösungen, die verbrauchsstarken Verbrennungsmotoren ein grünes Deckmäntelchen verleihen und das notwendige Verbrenner-Ende verzögern. Das Abkommen stellt insofern eine weitere Hypothek für die sozial-ökologische Transformation der Autoindustrie und eine umfassende Verkehrswende dar.
Die von Thomas Fritz erstellte 60-seitige Studie kann als pdf-Datei heruntergeladen werden oder über denselben Link als gedruckte Version kostenlos bestellt werden. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 457 Juli/Aug. 2022, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt.
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