Erdogan lässt Putin warten

Nach 16 Jahren Merkel-Sachlichkeit und -Unaufgeregtheit hatte man in Deutschland fast vergessen, dass Weltpolitik vor allem eine Sache des Prestiges ist. In den kleinen Prestigekämpfen (z.B.: „Wer lässt wen warten …“) werden Rangfolgen ausgekämpft und dargestellt. Das ist auch, aber weitem nicht nur ein Spiel von überkandidelten Egos. Es geht auch um die Rangfolge von Staaten.

Putin, der andere selbst gerne einmal warten lässt, steht im Video, das ihn als wartenden zeigt, wie ein Schulbub da, der auf den Lehrer Erdogan wartet. Erdogan bauchpinselt sich mit der Vorführung seines Regionalkonkurrenten selbst. Gleichzeitig zeigt er der ganzen Welt, wie tief Russland im Ranking of Power abgerutscht ist.

Ein anderer Aspekt, der hier zu sehen ist, ist der Leerlauf von Macht, der immer auch deren Selbstverzehrung ist. Der Machtmensch muss eigentlich immer alles unter Kontrolle haben. Jede Sekunde, die er nicht kontrolliert, untergräbt sein Macht-Image, indem sie ihn als ganz durchschnittlichen Alltagsmenschen sichtbar macht. Das Mienenspiel der Vladimir P. zeigt, dass er ziemlich genau weiss, was hier vorgeht.

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Über Reinhard Olschanski / Gastautor:

Geboren 1960, Studium der Philosophie, Musik, Politik und Germanistik in Berlin, Frankfurt und Urbino (Italien). Promotion zum Dr. phil. bei Axel Honneth. Diverse Lehrtätigkeiten. Langjährige Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Referent im Bundestag, im Landtag NRW und im Staatsministerium Baden-Württemberg. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Politik, Philosophie, Musik und Kultur. Mehr über und von Reinhard Olschanski finden sie auf seiner Homepage.