Kürzlich las ich im Internet das Stichwort „Weltungleichheitsbericht“. War das Satire oder Wirklichkeit? Leider Letzteres – es gibt diesen Bericht. Im Dezember 2017 wurde der erste World Inequality Report als Ergebnis einer Fachtagung über World Wealth and Income Database (WID) an der Pariser Wirtschaftsschule veröffentlicht. Autoren waren u.a. die international bekannten Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty, Emmanuel Saez und Gabriel Zucman. Seitdem erfolgt jährlich eine solche Publikation des World Inequality Lab dieser Universität. Zuletzt erschien der Report 2022 im Dezember 2021 mit einem Umfang von 230 Seiten.
Ausgangspunkt der Datensammlung war eine Untersuchung über die Konzentration des Reichtums der obersten 10% in der Bevölkerung in 33 Ländern, deren Ergebnis 2013 zusammengestellt und publiziert wurde. Unverändertes Ziel ist es, das Ausmaß an Ungleichheit zu messen und wissenschaftlich darzustellen und damit eine öffentliche Debatte darüber anzustoßen. An der Pflege und Nutzung der Datenbanken beteiligen mehr als 100 Forscher/innen aus mehr als 70 Ländern. Dazu arbeiten sie mit Universitäten, statistischen Ämtern, Steuerbehörden und internationalen Organisationen zusammen; ihre Tätigkeit wird vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen gefördert.
Die Tatsache, dass 1% der Weltbevölkerung über 45% des Gesamtvermögen verfügen und damit über nicht viel weniger als die restlichen 99 %, gehört heute schon fast zum Allgemeinwissen. Genauso wie die Tatsache, dass in Deutschland 74% der Akademikerkinder studieren und nur 21% der Kinder von Nicht-Akademikern. Die Weltungleichheitsberichte liefern viel mehr, eine fast unüberschaubare Menge an relevanten Daten und Fakten. Jährlich 200 bis 300 Seiten voller Ungleichheiten, Diskriminierungen und Ungerechtigkeiten – alles sauber aufgelistet und belegt und dank des umfangreichen Kartenmaterials sehr anschaulich.
Schon der erste Bericht zeigte, dass die Kluft zwischen Arm und Reich seit 1980 weltweit zugenommen hat. In Europa war dies weniger stark, während in Nordamerika und Asien ein rascher Anstieg erfolgte. Im Nahen Osten, in Afrika und in Südamerika verharrte die Ungleichheit auf einem hohen Stand. Seitdem erscheinen die Berichte jährlich. Die große Aufmerksamkeit, die sie erzeugten, spornte die Verfasser an. So widmet sich der Bericht für 2022 erstmals den Themen Ungleichheit zwischen den Geschlechtern, Ungleichheit der CO2-Emissionen und der Entwicklung öffentlicher und privater Vermögen. Hier die wichtigsten Erkenntnisse:
1. Die Einkommens- und Vermögensungleichheiten nehmen seit den 80er Jahren fast überall zu, vor allem als Folge von Deregulierungs- und Liberalisierungsprogrammen, die in etlichen Ländern in unterschiedlicher Form umgesetzt wurden. Ungleichheit ist also nicht unausweichlich, sondern eine politische Entscheidung.
2. Die globale Vermögenskonzentration ist extrem. Die reichsten 10% der Weltbevölkerung verfügen über 76% des Vermögens, die ärmste Hälfte nur 2%. In keiner Weltregion besitzt die ärmere Hälfte der Bevölkerung mehr als fünf Prozent des Vermögens. Europa steht noch recht gut da: Hier besitzen die reichsten 10% „nur“ 36% des Vermögens. Auch China weist einen relativ geringen Anteil auf. In den USA, Russland und Indien hat die Ungleichheit spektakulär zugenommen.
3. Die Vermögenskonzentration nimmt zu. Das Vermögen von Milliardär/innen ist seit mehr als 25 Jahren nicht mehr so stark gewachsen wie 2020, dem ersten Jahr der Corona-Pandemie. Das reichste Prozent hat seit 1995 fast 40% aller Vermögenszuwächse vereinnahmt, die unteren 50% erhielten 2%. Der Anteil der reichsten 0,01% (!) am weltweiten Vermögen ist seit 1995 von 7 % auf 11 % gestiegen.
4. Die heutigen weltweiten Ungleichheiten entsprechen in etwa dem Niveau des frühen 20. Jahrhunderts, dem Höhepunkt des westlichen Imperialismus. Der Einkommensanteil der ärmsten Bevölkerungshälfte ist sogar nur etwa halb so hoch wie 1820.
5. In den vergangenen 50 Jahren sind die Vermögen der Privathaushalte kontinuierlich gestiegen, die öffentlichen Vermögen jedoch geschrumpft. Das öffentliche Vermögen abzüglich Staatsverschuldung ist in vielen Ländern mittlerweile nahe null oder negativ. Das bedeutet, dass sich das gesamte Vermögen in privater Hand befindet.
6. Die Einkommensunterschiede sind in den letzten Jahrzehnten geringer geworden. 1980 war das Durchschnittseinkommen der obersten 10 % noch 53 mal so hoch wie jenes der unteren 50 %; 2020 war es nur 18 mal so groß.
7. Bei der Geschlechtergleichstellung gibt es nur geringe Fortschritte. Während die Frauen 1990 weltweit knapp 30 % der Einkommen bezogen, sind es heute erst 35 %. Die Fortschritte bei der Geschlechtergleichstellung waren also sehr langsam.
8. Bei den CO2-Emissionen waren 2019 die wohlhabendsten 10% der Weltbevölkerung für fast die Hälfte aller Emissionen verantwortlich, während die unteren 50% nur 12% produzierten. Allerdings ist dies nicht unbedingt ein Kennzeichen reicher oder armer Ländern. Es gibt stark Emittierende in Ländern mit niedrigem Durchschnittseinkommen und niedrig Emittenten in reichen Ländern. Drückt man die Klimaziele pro Kopf aus, dann hat die ärmere Hälfte der Bevölkerung in den reichen Ländern diese bereits erreicht. Klimapolitik sollte dort also künftig vorrangig die Konsumgewohnheiten der Wohlhabenderen beeinflussen.
Um den Fehlentwicklungen entgegenzuwirken, empfehlen die Autoren konkrete Maßnahmen. Ihrer Ansicht nach kann die immer größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich nur durch eine (leicht progressive) Vermögenssteuer beseitigt werden. Ein im Report vorgestelltes Szenario würde 1,6% des globalen Einkommens erwirtschaften und in Bildung, Gesundheit und ökologischen Wandel investiert werden können. Außerdem fordern sie ein internationales Finanzregister, um der Steuerflucht zu begegnen, und sie schlagen vor, Steuerpflichtige, die zwecks Steuerminderung oder -vermeidung in einen anderen Staat übersiedeln, mit einer Sonderabgabe (»Exit Tax«) zu belegen.
Abschließend habe ich nachgesehen, ob es neben dem Weltungleichheitsbericht auch einen Weltuntergangsbericht gibt. Offenbar gibt es ihn. 4) Vielleicht komme ich darauf zurück.
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