Jüngst las ich von einer „FDP-FDP-FDP-Koalition“, die in Berlin regiert. Das war zwar Iro­nie, aber auch Anlass zum Nachdenken. Zunächst muss man wohl Christian Lindner ein Kompli­ment für sein Durchsetzungsver­mögen machen. Noch nie hat eine Partei, die bei einer Wahl nur 11,5% erhielt und die nur mit 22% an der Regierungskoalition beteiligt ist, der­art viele Entscheidungen maßgeblich be­einflusst und ihre weitaus zahlreicheren Koaliti­onskollegen „überstimmt“. Damit hat die FDP ihrer Wählerschaft zu unerwarteter (und un­verdienter) Relevanz verholfen. Viele wun­dern sich, dass ihre Stimmabgabe plötzlich doch mal et­was wert ist.

Das Bundestagswahlergebnis hat der FDP zu einer überraschende Machtposition verhol­fen. Für Rot-Grün-Rot reichte es nicht. Die CDU wollte keinen SPD-Kanzler wählen. Die Grünen schreckten letztlich davor zurück, zusammen mit der FDP Friedrich Merz zur Kanzlerschaft zu verhelfen. Das dürfte immer noch gelten.

Der FDP war von vornherein klar, dass sie nicht aus Gründen politischen Gleichklangs, sondern nur als Mehrheitsbeschafferin in die Ampel aufgenommen worden war. Dieses Image wollte sie abstreifen, weshalb sie die Rolle einer Mehrheitsverhinderin übernahm. Dies ist offenbar nun ein Schwerpunkt der FDP-Politik: Verhindern statt Verändern. Aller­dings hat die FDP auch in früheren Zeiten schon gern mal etwas verhindert, sogar Be­schlüsse ihrer Parteitage, die der Fraktion bzw. den Minister/innen nicht passten.

Wahrscheinlich gibt es eine Vielzahl von Gründen für das sonderbare Verhalten der FDP. Zunächst will sie damit ihre Koalitionsentscheidung rechtfertigen. Angesichts der geringen Zahl ihrer Wähler/innen muss sie Eindruck machen, Profil entwickeln und ihr Stehvermö­gen beweisen. Vielleicht hat sie Angst, als kleinste Ampelfraktion in der öffentlichen Wahr­nehmung unterzugehen. Außerdem ist es viel einfacher und zeitsparender, Anträge Dritter abzulehnen, als selber welche zu entwerfen. Ist es womöglich Bequemlichkeit, nur An­tragsverhinderer zu sein? Womit ich nichts über die Leistungsfähigkeit von Christian Lind­ner gesagt haben möchte.

Die Verhinderung der Impfpflicht, die Ablehnung eines Tempolimits auf Autobahnen und das Nein zur Vermögenssteuer und zu Steuererhöhungen jeder Art sind allseits bekannte FDP-Positionen. Lindner wehrte sich auch gegen ein kommunales Vorkaufsrecht für Woh­nungen und gegen eine Neuberechnung der Hartz IV-Sätze. Gern nutzt er seine Position als Finanzminister aus und bremst Forderungen von SPD und Grünen mit dem Hinweis aus, dafür wäre kein Geld vorhanden.

Also gibt es (vorerst?) keinen Energiezuschuss für wirtschaftlich Schwache, keinen Zu­schuss zur Tierhaltungskennzeichnung und keine Verlängerung des 9-Euro-Tickets (Auflis­tung ohne Anspruch auf Vollständigkeit). Lindner erkennt darin eine „Gratismentalität à la bedingungsloses Grundeinkommen.“ Deshalb wird auch der Vorschlag verworfen, das Dienstwa­genprivileg zugunsten einer Finanzierung des 9-Euro-Tickets zu kürzen oder ab­zuschaffen. Die Pendlerpauschale soll hingegen erhöht werden. Die Übergewinnsteuer wie­derum, die mehrere Mrd. € erwirtschaften würde, wird von der FDP abgelehnt. Obwohl die Wissen­schaftlichen Dienste des Bundestages sie als rechtmä­ßig eingestuft und einige eu­ropäische Staaten sie bereits eingeführt oder angekündigt ha­ben.

Nun kann man gewiss die Frage stellen, ob und wie ein solches Verhalten mit einem de­mokratischen Verständnis und mit der Verpflichtung der Abgeordneten vereinbar ist, dem Wohle des Volkes zu diesen. Aber so ist es wohl nun mal in der Parteipolitik. Da kann man nicht unbedingt auf die Geschlossenheit und Handlungsfähigkeit der Regierung und auf deren nationales und internationales Ansehen Rücksicht nehmen.

Gibt es für die Koalitionspartner eigentlich eine Grenze der Zumutung? Warum und wie lange machen SPD und Grüne das mit? Zunächst gewiss, weil sie Verantwortung über­nommen haben, weil sie sich in der Pflicht sehen gegenüber der Bevölkerung, den Wäh­ler/innen und den Parteimitgliedern. Sie wollen ihre Wahlaussagen und das Koalitionspro­gramm umsetzen. Das geht nicht ohne die FDP. Und die sagt ja nicht immer Nein. Außer­dem konnte man wohl schon bei der Regierungsbildung ahnen, wie sich das mit der FDP entwickeln würde. In einem Leserbrief war kürzlich zu lesen: „Es war naiv von den Grünen und der SPD zu glauben, die FDP einhegen oder gar auf einen Pfad politischer Rationali­tät bringen zu können.“

Vielleicht sind SPD und Grüne inzwischen sogar ganz froh darüber, dass sie mit Christian Lindner jemanden als Finanzminister haben, der einerseits den von ihm durchgedrückten Anspruch auf Einhaltung der Schuldenbremse vertreten und Steuererhöhungen bekämp­fen und andererseits immer wieder neue Tricks (er)finden muss, Schulden zu machen. Al­lerdings gibt es in Kreisen von SPD und Grünen mittlerweile vereinzelt auch andere Mei­nungen. Neulich konnte man dort die Variation eines Spruchs von Christian Lindner hören: „Lieber gar nicht regieren als mit der FDP regieren“.

Christian Lindner weist alle Vorwürfe zurück. Man munkelt, das er dazu die Abwandlung ei­nes Textes nutzen will, den Mathias Richling dem russischen Präsidenten zur Ukraine in den Mund gelegt hat: „Wir wehren uns gegen jede Kritik an einer Blockadehaltung, die es gar nicht gäbe, wenn die FDP nicht da wäre. Wie könnten wir etwas blockieren, wenn es nichts zu blockieren gäbe. Dann hätten wir keinen Grund, etwas zu blockieren. Also müs­sen wir etwas blockie­ren, um unser Dasein zu rechtfertigen.“

Disclaimer: Der Autor war von 1972 bis 1982 selbst in der FDP.

Über Heiner Jüttner:

Der Autor war von 1972 bis 1982 FDP-Mitglied, 1980 Bundestagskandidat, 1981-1982 Vorsitzender in Aachen, 1982-1983 Landesvorsitzender der Liberalen Demokraten NRW, 1984 bis 1991 Ratsmitglied der Grünen in Aachen, 1991-98 Beigeordneter der Stadt Aachen. 1999–2007 kaufmännischer Geschäftsführer der Wassergewinnungs- und -aufbereitungsgesellschaft Nordeifel, die die Stadt Aachen und den Kreis Aachen mit Trinkwasser beliefert.