„Der Westen“ (also jetzt nicht Grönemeyer/Bochum/NRW) steht von verschiedenen Seiten kulturell-politisch auf der Abschussliste. Einerseits von Populisten und Autokraten/Theokraten-Bündnissen (Russland, China, Iran …), die sich im Moment zumindest medial präsentieren. Andererseits – und um einiges ernsthafter – von einem Postkolonialismus, der weitgehend (aber nicht immer und in jedem Detail) zurecht kritisiert, dass viele zentrale Länder des Westens zwar Liberalismus, Freiheit und Demokratie predigten, aber die heftigsten Autokratien/Diktaturen unterstützten, solange diese ihnen nicht gefährlich werden konnten – von der Aufarbeitung des eigenen Kolonialismus ganz abgesehen.

Diese Kritik sollte man nicht fallenlassen, aber auch ein Stück weit nach vorne schauen. Es geht um die Frage, was nun geo- und demokratiepolitisch die beste Variante wäre. M.E. wäre es die Selbst-Rekonstruktion eines „Westens“ (nicht bloß nordatlantisch verstanden), der die Werte, die er immer so stolz präsentiert, auch wirklich ernstnimmt. Etwas anderes und besseres als das haben wir als gangbare Mininmalutopie eigentlich nicht.

Mit Timothy Garton Ash bin ich hier sogar leicht optimistisch gestimmt. Das liberalkapitalistische Wirtschaftssystem hat (abstrakt) eine ziemliche Effektivität, so dass selbst der chinesische Kommunismus diesen Tiger reitet – ohne allerdings auch nur entfernt in Richtung politische Liberalisierung/Demokratisierung zu blicken. Andererseits waren die „goldenen“ Jahre des westlichen Modells gerade diejenigen einer ziemlich heftigen Konkurrenz mit dem damaligen Ostblock. Die Babyboomer sind groß und glücklich geworden mit dem, was das westliche Modell an Wohlstand für die (westliche) Breite der Bevölkerung gebracht hat.

Nun zeichnet sich wieder eine solche Konkurrenzsituation ab, in der der Westen sich zusammennehmen und global verallgemeinerbare Ergebnisse produzieren muss. Die Klimafrage ist da nicht die letzte Frage, die zu lösen ist. Also eine freiheitliche und sozial-ökologische Rekonstruktion des Westens – ohne Reagan/Thatcher-Rollback des Sozialen und ohne Trump/Bolsonaro-Zombie-Industrialismus auf karbonarer Basis – das wäre nun durchzusetzen.

Die gegenwärtige Weltlage, so krisengeschüttelt sie ist, könnte da eine Hallo-Wach-Tablette sein. Einige Kräfte auch in Deutschland schauen in diese Richtung. Der sauerländische Mofarocker von der CDU leider nicht. Na ja, vielleicht geht es auch ohne ihn.

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Über Reinhard Olschanski / Gastautor:

Geboren 1960, Studium der Philosophie, Musik, Politik und Germanistik in Berlin, Frankfurt und Urbino (Italien). Promotion zum Dr. phil. bei Axel Honneth. Diverse Lehrtätigkeiten. Langjährige Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Referent im Bundestag, im Landtag NRW und im Staatsministerium Baden-Württemberg. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Politik, Philosophie, Musik und Kultur. Mehr über und von Reinhard Olschanski finden sie auf seiner Homepage.