Wie Big Pharma den Kampf für eine bezahlbare Krebsbehandlung sabotierte
Das verzweifelte Ferngespräch einer Tochter aus Bogotá machte das ganze Elend mit Medikamentenpatenten deutlich. Darin bat sie Freund*innen in Europa, lebensrettende Tabletten für ihren krebskranken Vater zu besorgen. In ihrem Land seien diese Medikamente für Leute wie sie unerschwinglich. Bekannte seien schon gefunden, die bereit seien, die Schachteln in ihrem Gepäck zum Flughafen der kolumbianischen Hauptstadt mitzunehmen. Dort wARTE dann die jüngere Schwester und nehme sie in Empfang. Das funktionierte fortan alle paar Monate. Der Vater lebte noch mehrere Jahre, immerhin. In Kolumbien hätte ihm die Familie damals keine Arzneien kaufen können.
Die hohen Preise spiegeln indessen meist nicht die wahren Kosten wider. Sie sind vielmehr Schutzgebühren. Patente garantieren Herstellern Monopole und damit willkürliche Marktwertfestsetzung. Im Jahr 2015 versuchte der damalige kolumbianische Gesundheitsminister Alejandro Gaviria, heute Erziehungsminister, im Falle eines Krebsmedikaments das Produktionsmonopol zu brechen. Er scheiterte. Der folgende Bericht mehrerer NRO beschreibt, warum Novartis unbedingt eine Zwangslizenz für den vergleichsweise kleinen Markt Kolumbien verhindern wollte.
Glivec, auch bekannt unter der Bezeichnung Imatinib, ist ein Medikament, das „einen tödlichen Krebs in einen handhabbaren Umstand“ verwandelte, so beschrieben es medizinische Praktiker*innen euphorisch. Zugelassen wurde Glivec 2001 und galt als „Wundermittel“ bei der Behandlung von Leukämie, einer tödlichen Form von Blutkrebs. Im Jahr 2015 setzte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) das Präparat auf die Liste essenzieller Medikamente. Das bedeutet, es sollte immer sowie zu einem Preis verfügbar sein, den Patient*innen wie auch staatliche Einrichtungen aufzubringen in der Lage sind.
Aber der Preis für Glivec machte einen Strich durch diese Rechnung. Die Produktionskosten werden auf jährlich 180 US-Dollar geschätzt, verkauft wurde das Medikament 2014 in Kolumbien allerdings für den extrem hohen Preis von 19819 US-Dollar pro Patient*in und Jahr, also zum mehr als Hundertfachen der Produktionskosten. Das entspricht fast dem Doppelten eines Jahresdurchschnittseinkommens in dem Land.
Ein Hauptgrund für den hohen Preis des Medikaments war ein Patent, das der Schweizer Pharmagigant Novartis 2012 für Kolumbien erhielt. Als Folge konnte das Unternehmen den Preis einer 400-Milligramm-Tablette auf 43 US-Dollar vervierfachen, während ein lokal produziertes Generikum vorher 10,50 US-Dollar kostete. Für Kolumbiens Haushaltsposten für das öffentliche Gesundheitswesen wurde das hochpreisige Medikament zunehmend unerschwinglich. Schätzungen zufolge gab das Land zwischen 2008 und 2014 rund 200 Millionen US-Dollar für die Abgabe des Medikaments aus, was das kolumbianische Gesundheitssystem fast in den Bankrott trieb.
„Medikament von öffentlichem Interesse”
Deswegen verlangte 2014 eine Gruppe kolumbianischer Gesundheits-NRO vom Gesundheitsminister, Glivec zum „Medikament von öffentlichem Interesse” zu erklären und dafür eine Zwangslizenz zu vergeben. Wenn ein patentiertes Medikament unter Zwangslizenz gestellt wird, bricht eine Regierung im Endeffekt das Monopol eines Herstellers und gewährt anderen Pharmaunternehmen das Recht, generische Versionen des Medikaments zu produzieren, was dazu führt, dass dessen Preis sinkt. Zwangslizenzen schaffen eine bedeutende Flexibilität. Sie werden von TRIPS, dem Abkommen über intellektuelle Eigentumsrechte, der Welthandelsorganisation WTO und vielen anderen Handelsabkommen anerkannt. Insbesondere wurden sie bislang von Ländern des Südens angewandt, um den Zugang zu lebensrettenden Medikamenten gegen Krankheiten wie HIV/AIDS zu ermöglichen.
Die kolumbianische Regierung entschied entsprechend, genau diese Strategie ebenfalls zu verfolgen und eine Zwangslizenz zu erteilen. Parallel dazu versuchte sie, direkt mit Novartis über einen Preisnachlass zu verhandeln, aber das Unternehmen lehnte rundheraus ab. Die Öffnung des Glivec-Marktes für Generika hätte die Höhe des Medikamentenpreises um schätzungsweise bis zu 77 Prozent verringert, was dem Haushalt Kolumbiens für öffentliche Gesundheit Einsparungen im Umfang von rund 15 Millionen US-Dollar im Jahr gebracht hätte.
Zum Vergleich: Weltweit stiegen 2015 die Erlöse aus dem Verkauf von Glivec auf satte 4,7 Milliarden US-Dollar. Novartis machte so mit einem Medikament gegen Krebs Rekordgewinne, und zwar zehn Prozent seiner Einnahmen. Also entschied das Unternehmen, das Huhn, das ihm goldene Eier legte, auf alle Fälle zu verteidigen. Entsprechend sandte Novartis am 21. April 2016 einen Brief an die kolumbianische Regierung und drohte darin, das Land vor einem internationalen Schiedsgericht zu verklagen, sofern die Regierung ihre Entscheidungen in Sachen Glivec nicht zurücknähme. Novartis behauptete in dem Brief, Kolumbien habe gegen sein bilaterales Investitionsabkommen (englisch unter BIT bekannt) mit der Schweiz verstoßen. Im Einzelnen, führte das Unternehmen aus, seien die getroffenen Maßnahmen nicht gerechtfertigt und diskriminierend. Zudem käme die Senkung des Medikamentenpreises auf das Niveau von Generika einer indirekten Enteignung des Glivec-Patents gleich.
Des Weiteren argumentierte Novartis, die Regierung habe die „legitimen Erwartungen“ des Unternehmens im Hinblick auf stabile Patentregeln verletzt. Die Drohung mit einem Schiedsverfahren wurde im Dauerfeuer von mächtigen Akteuren wiederholt, angefangen von der Hauptgeschäftsführung von Novartis bis zu den Regierungen der USA und der Schweiz. Zudem drohten die USA, die Unterstützung des kolumbianischen Friedensprozesses in Form von Mitteln in Höhe von 450 Millionen US-Dollar zu kürzen und die Bestrebungen Kolumbiens, dem Club der reichen Länder, also der OECD, beizutreten, zu blockieren.
Der Druck tat Wirkung. Am 27. April 2016, weniger als eine Woche nach dem Brief von Novartis an die kolumbianische Regierung, empfahl die kolumbianische Botschaft in Washington, dass das Gesundheitsministerium alle notwendigen Maßnahmen treffe, um eine Investor-Staat-Klage zu vermeiden. Während das Ministerium letztlich erklärte, der Zugang zu Glivec liege im öffentlichen Interesse, und damit eine Senkung des Medikamentenpreises um 44 Prozent erzwang, ließ die Regierung ihren Plan fallen, eine Zwangslizenz zu erteilen.
Gefährlicher und besorgniserregender Präzedenzfall
Die Verhinderung einer Zwangslizenz war für Novartis das Wichtigste. Der kolumbianische Markt für Glivec beträgt gerade einmal ein Prozent des weltweiten Verkaufs dieses Medikaments. Er ist also zu klein dafür, dass eine Preissenkung allein dem Pharmagiganten größere Verluste eintrüge. Vor dem Hintergrund fortlaufend steigender internationaler Beachtung für die und Kritik an den hohen Kosten für pharmazeutische Präparate mit einem Markennamen in den Ländern des Südens hätte eine Zwangslizenz einen gefährlichen und besorgniserregenden Präzedenzfall für Novartis bedeutet. Auf die Frage, ob es „wahr sei, dass Novartis mehr beunruhigt sei angesichts des Signals, das an die Welt ausgesandt werde, als im Hinblick auf die Auswirkungen in Kolumbien“, antwortete der Präsident des Unternehmens für die Andenregion mit einer Bestätigung dieser Analyse: „Ja, denn es handelt sich um ein globales Unternehmen, und jedes Land, das solch eine Entscheidung trifft, ist Anlass zur Besorgnis.“
Pharmazeutische Unternehmen wie Novartis haben ihre beträchtlichen finanziellen Mittel systematisch dafür benutzt, überall in der Welt den Gebrauch von Zwangslizenzen abzuwenden, wie eine Untersuchung in 89 Ländern nachwies, die 2018 von der Weltgesundheitsorganisation veröffentlicht wurde. Es war durchaus ein historischer Schritt, dass Kolumbien erklärte, ein patentiertes Medikament sei von öffentlichem Interesse, und so erreichte, dass sein Preis beachtlich gesenkt wurde. Jedoch war auch die Einschüchterung durch Novartis erfolgreich im Sinne des Unternehmens. Mittels der Drohung einer Investorenklage verhinderte der Pharmakonzern letztendlich die Möglichkeit eines globalen Präzedenzfalls und damit weitere Schritte, um weltweit den Zugang zu bezahlbaren Medikamenten zu ermöglichen.
Übersetzung: Gaby Küppers. Der Beitrag stammt aus dem Bericht „Red carpet courts: 10 stories of how the rich and powerful hijacked justice“, von Corporate Europe Observatory, Transnational Institute und Friends of the Earth Europe/International, Juni 2019. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 459 Okt. 2022, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt.
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