Chile, der verfassunggebende Prozess und die indigenen Völker

Am 4. September dieses Jahres wurde in Chile in einem Plebiszit der Entwurf eines Grundgesetzes, das die Verfassung der Pinochet-Diktatur ablösen sollte, abgelehnt. Die Kampagne der überwiegend konservativen Medien und rechten Parteien gegen soziale Rechte, gesellschaftliche Modernisierungen und die Anerkennung der indigenen Völker war erfolgreich. Dieses Ergebnis eröffnet verschiedene Fronten, die sich erst im Laufe der nächsten Monate herauskristallisieren werden. Trotz der Ablehnung des Verfassungsentwurfes ist der Autor des folgenden Beitrags der Meinung, dass alleine schon der Verfassungsprozess einen Paradigmenwechsel in der schwierigen Beziehung zwischen Staat und indigenen Völkern bedeutet hat. Allerdings sind gerade an diesem Punkt die Widerstände in großen Teilen der Bevölkerung (mehrheitlich Nachfahr*innen eingewanderter Europäer*innen) und die Polemik der konservativen und rechtsextremen Kräfte besonders groß. So wurde etwa in der Kampagne gegen die Annahme des Verfassungsentwurfs von der Rechten kolportiert, durch das neue Grundgesetz bekämen die Indigenen mehr Rechte als die „Chilenen“ – eine Behauptung, die offenbar bestehende Ressentiments und Rassismen erfolgreich bediente. (redaktionelle Vorbemerkung ILA)

Die Möglichkeit, einen neuen verfassunggebenden Prozess einzuleiten oder den Status quo beizubehalten, der dem liberalen Modell in den letzten 40 Jahren gedient hat, wurde 2020 mit einem Referendum zugunsten der ersteren Option entschieden. Bis heute ist die verfassungsrechtliche Nichtanerkennung indigener Völker eine der wichtigsten Lücken im chilenischen Recht, und dies trotz der mehr als zwei Millionen Menschen, die sich als Angehörige einer indigenen Gemeinschaft identifizieren und laut der Volkszählung von 2017 12,8 % der Gesamtbevölkerung des Landes ausmachen. Unter Berücksichtigung dieser Daten ist Chile im Vergleich zu anderen Ländern der Region einer der lateinamerikanischen Staaten mit dem größten Anteil indigener Bevölkerung. Verschiedene Forscher*innen sind sich einig, dass der chilenische Verfassungsprozess die direkte Folge des „sozialen Ausbruchs“ („estallido social“) vom Oktober 2019 ist, der die neoliberale Institutionalität in die Schranken wies. Manuel Antonio Garretón vertrat in einem Interview mit der sozialwissenschaftlichen Zeitschrift „Ambos Mundos“ der Universität Alicante die Auffassung, dass der Verfassungskonvent „die institutionelle Projektion des Ausbruchs ist“. Auch wenn die indigenen politischen Organisationen bei diesen sozialen Aufständen eine eher untergeordnete Rolle spielten, zeigen viele Bilder der Protestbewegungen im Internet Embleme wie die Wiphala (1) und vor allem die Wenufoye (2). Sie wurden von den Demonstrant*innen häufig verwendet und innerhalb des kollektiven Selbstverständnisses „als Symbole des Widerstands gegen das Fortbestehen des von der Diktatur auferlegten Institutionengefüges und der von ihm verursachten Ungerechtigkeiten“ interpretiert, wie es der Berater des Nationalen Instituts für Menschenrechte, José Aylwin, formuliert.

In der Praxis manifestierte sich die Teilnahme indigener Akteur*innen am Verfassungsprozess mit der Wahl von 17 Vertreter*innen aus indigenen Gemeinschaften in den Verfassungskonvent. Diese Beteiligung war besonders wichtig, da die derzeitige Verfassung die Existenz und die Rechte der indigenen Völker leugnet. Sie sollen als untrennbarer Teil der chilenischen „Nation“ betrachtet werden. Das gleiche Versäumnis findet sich auch in den anderen sechs Verfassungen, die es seit der Unabhängigkeit Chiles gegeben hat. Man muss genau zwei Jahrhunderte bis zur Verfassung von 1822 zurückgehen, um die bisher einzige Erwähnung der Indigenen in einer Grundrechtscharta zu finden: „Es obliegt dem Kongress, für die Zivilisation der „indios“ des Territoriums zu sorgen“. (3)

Juristische Taubheit des chilenischen Staates

Daher stellen zumindest aus verfassungsrechtlicher Sicht indigene Bevölkerungsgruppen kein Problem für den Staat dar. Chile ist weiterhin eines der drei Länder in Südamerika, das die Existenz indigener Völker in seiner Verfassung nicht ausdrücklich anerkennt. Zusammen mit Uruguay und Suriname (zwei Länder, in denen der Anteil der Indigenen an der Gesamtbevölkerung sehr klein ist – die Red.) bleibt die chilenische Verfassung am Rande eines Mehrheitstrends in der Region, in der verschiedene politische Prozesse, von denen einige wie im Fall von Bolivien paradigmatisch sind, zu einer Grundrechtscharta geführt haben, die die kulturelle Vielfalt anerkennt und wertschätzt. Diese juristische Taubheit des chilenischen Staates wird durch das repressive Vorgehen gegen indigene Mobilisierungen, die seit Jahrzehnten vor allem im Süden des Landes stattfinden, noch verschärft.

Der am 4. September in der Volksabstimmung abgelehnte Verfassungstext sieht dagegen die Anerkennung von elf indigenen Gemeinschaften vor, die bereits vor dem chilenischen Staat existierten, „und von anderen, die auf die gesetzlich festgelegte Weise anerkannt werden können“ (Artikel 5 der vorgeschlagenen politischen Verfassung der Republik). Bemerkenswert ist die Anerkennung der Selk’nam im äußersten Süden des Landes, die vom chilenischen Staat als ausgestorben betrachtet werden und deren Angehörige um die Anerkennung als lebendige und aktive Nation kämpfen.

Es sei auch darauf hingewiesen, dass das derzeitige Indigenengesetz 19.253 neun indigene “ethnische Gruppen” teilweise anerkennt. Kurz gesagt handelt es sich um einen Rechtsrahmen, in dem der Begriff „Volk“ („pueblo“) oder „Nation“ („nación“) nicht verwendet wird. Seit seinem Inkrafttreten im Jahr 1993 gilt das Indigenengesetz als ineffizient, wenn es darum geht, den Bedürfnissen der indigenen Völker in ihren Beziehungen zum Staat gerecht zu werden.

Segregation und Marginalisierung

Die Folgen dieser unterwerfenden Beziehung zwischen dem chilenischen Staat und den existierenden indigenen Nationen sind heute sichtbar. Die indigene Bevölkerung in Chile ist, wie in anderen Teilen Lateinamerikas auch, größtenteils Leidtragende verschiedener Formen der Segregation, die sie in die Marginalität drängen. Es ist kein Zufall, dass mehrere Gemeinschaften gegen die Militarisierung, mit der der Staat auf ihre historischen Forderungen reagiert hat und reagiert, zu den Waffen greifen. Im Fall der Mapuche in Chile (ganz zu schweigen von Argentinien) wurden Dutzende von Gemeindemitgliedern und Aktivist*innen durch Polizeischüsse getötet, was die Beziehungen des Staates zu den indigenen Völkern weiter belastet. In diesem düsteren Szenario kann die verfassungsmäßige Anerkennung der kollektiven und individuellen Rechte der indigenen Völker und sogar ihre Diskussion im öffentlichen Raum als Beginn einer Veränderung dieses ungleichen Verhältnisses interpretiert werden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich die historisch bedingte Segregation auf den verschiedenen Ebenen der Gesellschaft automatisch ändern wird.

Die Wiedergutmachungsmaßnahmen müssen mit der Umsetzung von exekutiven Mechanismen mit intersektionalem Charakter einhergehen, die die Beziehungen zwischen den Gruppen innerhalb eines Staates, der die Anerkennung als plurinationaler Staat anstrebt, horizontalisieren können. In diesem Sinne sind die verfassungsrechtlichen Erfahrungen von Ländern wie Bolivien und Ecuador sicherlich ein Anhaltspunkt, der bei der Bewertung und Planung der Zukunft Chiles und seiner indigenen Völker berücksichtigt werden sollte. Im Moment hat der Paradigmenwechsel bereits seine Grundlagen in dieser konstituierenden Erfahrung gelegt.

Felipe Gómez Gálvez ist Journalist und macht einen Master in Kulturstudien zu Lateinamerika an der Universität Bonn.

(1) Flagge, die hauptsächlich mit den Aymara in Verbindung gebracht wird, obwohl sie als Symbol für viele indigene Völker verwendet wird.

(2) Flagge des Volkes der Mapuche

(3) Aus der politischen Verfassung von Chile, Kapitel 4, Artikel 47, 1822

Der Text erschien erstmals bei „Amerigrafías“, dem Blog der Abteilung für Altamerikanistik an der Universität Bonn: Übersetzung: Inga Triebel. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 459 Okt. 2022, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt.

Über Felipe Gómez Gálvez / Amerigrafías / ILA:

Die Informationsstelle Lateinamerika e. V. (ila) ist ein gemeinnütziger Verein mit Sitz im Oscar-Romero-Haus in Bonn. Das Ziel des Vereins ist die Veröffentlichung kritischer und unabhängiger Informationen aus Lateinamerika. Der Schwerpunkt liegt auf Nachrichten und Hintergrundinformationen aus basisdemokratischer Perspektive. Die Informationsstelle Lateinamerika begreift sich als Teil der politischen Linken und engagiert sich in übergreifenden politischen Bündnissen wie der Friedens- und Antikriegsbewegung oder Attac. Der Verein besteht seit 1975 und gibt die gleichnamige Zeitschrift ila heraus. Alle Beiträge im Extradienst sind Übernahmen mit freundlicher Genehmigung.