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Ästhetischer Auftrag

Architektur in der Wohnungsnot – soziale Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Ökologie. Moderner Städtebau steht vor vielen Herausforderungen. Unser Autor meint: Bauhaus hat dabei ausgedient.

Längst sollten die Städte wieder Mittelpunkt für das private wie öffentliche Leben, für Wohnen, Arbeiten, Bildung und Freizeit werden. Heute wird bereits weitergedacht, wie bei Klimaneutralität auch die soziale Qualität urbaner Lebenskultur möglich sein kann. Schon in den 1970er-Jahren war „qualifizierte Verdichtung“ im Gespräch – heute aktuell für die Verwirklichung der „Stadt der kurzen Wege“ mit vielfältigen Möglichkeiten der sozialen und funktionalen Durchmischung des urbanen Lebens. Auch auf der Architektur-Biennale 2021 in Venedig wurden neben außerirdischen Überlebensideen hauptsächlich sozial-ökologische Antworten auf Erden gesucht: Wie wollen wir in Zukunft leben, wem gehört die Stadt und wem der öffentliche Raum?

Nach dem Zweiten Weltkrieg wollte man hierzulande, oft ohne Rettungsideen für den noch überdauerten Altbaubestand, partout neu und modern beginnen. Dafür gab es auch die nötige mit der Baulobby verstrickte politische Mehrheit und auf Aufträge für die sogenannte Moderne hoffende Architekten. Abriss für den Neubau war die Devise. Weitgehend ad acta gelegt wurde dabei der generationenlang bewährte, komplexe, multifunktionale und zum Teil anziehungsreiche Stadtorganismus des „europäischen Stadtmodells“ aus einer Zeit, in der Architektur und Stadtplanung nicht nur Bauingenieurleistung waren, sondern auch Kulturaufgabe.

Obwohl seit Jahrhunderten allgemeine Gestaltungsbedürfnisse existierten und heute noch im Wohninterieur oder in der Bekleidungsmode unverzichtbar scheinen, spielen offensichtlich in der Außenarchitektur und in der Außenräumlichkeit kreative Sinnlichkeit und einladende Vielfältigkeit nur noch eine Nebenrolle. Öffentliche entdeckungsreiche Stadträumlichkeit, die inspiriert, neugierig macht und die man gerne besucht und durchläuft, wird zunehmend rein kommerziellen Interessen geopfert.

Das neue Platzensemble Potsdamer/Leipziger Platz in Berlin offenbart, bei aller Mühe, nur eine schwer belebbare, weiträumige, unbewohnte Monotonie. Der Projektleiter Nardi für das nahe liegende Bauprojekt des Architekten Giorgio Grassi sprach (1994) von „Monotonie ist Qualität“. Der durch Bauhaus, Internationale Moderne/CIAM und Charta von Athen beeinflusste Verlust an gewachsener, multifunktionaler Stadt- und Lebenskultur mit sozialer und gewerblicher Durchmischung forcierte ab den 1970er-Jahren wachsenden Widerstand. Häuserkämpfe und „Hausinstandbesetzungen“ waren die Folgen.

Niemand bucht eine Reise, um die Gropiusstadt zu sehen

Dem voraus gingen deutlich kritisch-publizistische Befassungen mit dem Thema Stadt: 1961, Jane Jacobs, „Tod und Leben großer amerikanischer Städte“; 1965, Alexander Mitscherlich, „Die Unwirtlichkeit der Städte“; 1964, Wolf Jobst Siedler, „Die gemordete Stadt“; 1968, Henri Lefebvre, „Le droit à la ville“ und 1970 „La révolution urbaine“. Schwer wiegt der Verlust an gewachsener, einladender Stadträumlichkeit durch die Auflösung monofunktionaler urbaner Lebensräume zugunsten solitärer, meist niedrigflacher Siedlungs- und Gewerbeorte, dies bei autogerechtem Flächenverbrauch mit restlichen Brachflächen, gerade gut genug für den Hundeauslauf.

Für eine klimagerechte Zukunft bedarf es aber einer verträglichen städtebaulichen Optimierung, flächensparenden Verdichtung und Revitalisierung lebensfreundlicher Wohn-, Lebens- und Aufenthaltsqualitäten, angepasst an die Zeiterfordernisse von nachhaltigem Klimaschutz mit ansehnlich zukunftsweisenden Architektur- und Stadträumen. Nur ungestaltete Solitärbauten in den Nichtraum zu setzen, kann diese Lebensfragen nicht lösen. Erforderlich ist auch die Unterschutzstellung noch vorhandener öffentlicher Flächen und Räume, Gewerbebauten, Wohn- und Mietshäuser.

Manches in der Architektur der Moderne war nicht uninteressant, dennoch nicht anregend genug, um dafür eine Reise zu planen. Man fährt beispielsweise kaum nach Paris, um „La Défense“ zu besuchen, oder nach Amsterdam, um die Trabantenstadt De Bijlmer nach Vorstellungen von Le Corbusier zu besichtigen, oder nach Berlin, um die von Walter Gropius geplante „Gropiusstadt“ zu durchwandern.

Bei all dem erinnere ich mich noch an mein Architektur- und Stadtplanungsstudium in den 60er-/70er-Jahren. Manifesthaft vertraten dabei einige Professoren für Gestalten und Entwerfen ihre Auffassung: Wir sind nicht für Schönheit da, sondern dafür, dass es funktioniert. Dass aber das Funktionieren allein nicht selbstverständlich die gute Form zur Folge hat, lehrt uns das 20. Jahrhundert noch hinreichend. Und: Architekten und Bauherren fühlten sich somit oft von den Mühen für baukulturelle Ansprüche und Kosten entlastet.

Nicht selten wirken sogar im Zentrum von Berlin neue Bauquartiere der Nachkriegszeit einsam, peripher und kaum besuchenswert. So etwa das, trotz seiner umgebenden ikonenhaften Kulturbauten, jahrzehntelang zersiedelt solitär geplante und dahindämmernde Kulturforum. Erst nach einer Zeitungsmeldung im Tagesspiegel (2019) keimt Hoffnung auf. Das „Ende der ewigen Ödnis … ist in greifbare Nähe gerückt.“ Wie schwer es oft ist, im Nachhinein solche Bauideologiefehler zu beheben oder nachzubessern, zeigt auch der Berliner Alexanderplatz: Er ist ein „Raum ohne Halt“.

Die Moderne: „Was heute nicht richtig ist, kann morgen ganz falsch sein!“

Architekten sowie mit der Politik eng verflochtene Baugesellschaften vertraten vehement entsprechend moderne Lehrformeln. Wer dem inhaltlich nicht folgen konnte, wurde oft als inkompetent, konservativ oder rückständig erachtet. Auf einem Demonstrationsplakat in Berlin war zu lesen: „Was heute nicht richtig ist, kann morgen ganz falsch sein!“ Deshalb: Architekten und Stadtplaner, emanzipiert euch von der Bauhaus-Zersiedelung, von Kubus, klarer Kante und Quadrat. Öffnet euch für eine klimagerechte, gestalterisch moderne, multifunktionale und soziale Stadt!

Nicht nur Berlin, auch Deutschland hatte nach dem Zweiten Weltkrieg mindestens zweimal die Chance für eine freie, neue und innovative Moderne. Aber selbst das sogenannte Wirtschaftswunder der 1960er-Jahre beflügelte Bauherren und Architekten kaum zu mehr Gestaltungskraft und Baukultur. Eine Moderne mit kreativen, formenreichen, bautechnischen Möglichkeiten böte wahrlich mehr gestalterische Vielfalt für eine bessere Welt.

Allmählich reift, insbesondere beim jungen Architektennachwuchs und selbst im Bund Deutscher Architekten und in den Architektenkammern, auch in den baupolitischen Verwaltungen die Erkenntnis, dass für ein klimagerechtes, wohlbefindliches, soziales und gewerbliches Zusammenleben auch eine reurbanisiert gemischte Lebenswelt sinnvoll und zukunftsnotwendig ist. Nur gut, dass uns die aktuellen stadtplanerischen Herausforderungen durch Nachhaltigkeit, Klimaveränderung und sparsamen Flächenverbrauch in Stadt und Land eines Besseren belehren und erneut zum Umdenken zwingen.

Dafür das „europäische Stadtmodell“ ernsthaft in den Blick zu nehmen kann durchaus ratsam und kreativ sein. Ohne nostalgisch historistische Sehnsüchte sollte doch zur Kenntnis genommen werden, welche oft anschaulich bemerkenswerten und funktionierenden Bauleistungen bei gegebener Logistik im Städtebau um 1900 möglich waren. Berlin zum Beispiel wurde nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71, von Reparationsleistungen gestützt, in gut 30 Jahren mit hohem baukulturellen Anspruch der Zeit von Spandau bis Friedrichshagen, von Reinickendorf bis Tempelhof gebaut.

Dies inklusive aller Wohn-, Gewerbe- und Infrastrukturbauten, Verwaltungs- und Versorgungseinrichtungen, Erholungs- und Parkanlagen, Kulturbauten, Kirchen und Kasernen. Bemerkenswert ist auch, mit welcher Werktreue, Gestaltungskraft und detaillierter Vielfalt das Bauen für die große Masse an Bauanforderungen in kurzer Zeit entwickelt wurde. Wie gesagt, Architektur und Stadtplanung waren vor dem Ersten Weltkrieg nicht nur eine bauingenieurtechnische Leistung, sondern zugleich Kulturaufgabe. In Gemälden der beginnenden künstlerischen Moderne wurde Paris, Modell der „europäischen Stadt“, vielfarbig mit stolz wehenden Fahnen gefeiert.

„Mietskasernen“ sind nun populär: Das Bauhaus hat versagt

Das damalige, zu Recht beklagte Mietskasernenelend diente wiederholt und vehement den Architekturvertretern der Moderne als Argument gegen das komplex-multifunktionale Stadtmodell. Alternativlos ideologisiert wurde hingegen die monostrukturierte Zersiedelungsmoderne. Das apostrophierte Wohnelend war aber das hausgemachte Resultat machtgefestigter, sozialgesellschaftlich extrem gespaltener Verhältnisse und der profitorientierten Immobilien-Geschäftigkeit.

So waren Haus- und Grundbesitzerverbände mit 50 Prozent privilegiert in den Stadt- und Gemeindeparlamenten etabliert, obwohl sie nur ein Prozent der Berliner Bevölkerung ausmachten. Geblieben sind den sozial niedrigen Klassen aus den engen dunklen Hinterhöfen wenigstens anschaulich öffentliche Stadträume und Stadtbilder, denn Eigentümerstolz und der private Ehrgeiz für das „Schöne und Gute“ sorgten dafür, dass dem Flaneur aller Stände und Klassen beim Stadtbesuch noch sinnliche Ereignisse geboten waren.

Auf den Abriss- und Neubauwahn nach dem Zweiten Weltkrieg folgten nicht nur kritische Auseinandersetzungen, sondern auch die Berliner Häuserkämpfe der 1970er-/80er-Jahre mit dem positiven Resultat der „Internationalen Bau Ausstellung – IBA 1987“ mit dem Ziel der „behutsamen Stadterneuerung unter Beibehaltung der sozialen und gewerblichen Mischung“.

Doch schon 20 Jahre danach zeigt sich seitens des internationalen, sozial entfremdeten Immobilien- und Investorengewerbes gieriges Interesse, insbesondere an den ehemals so verteufelt geschmähten, dem Abriss preisgegebenen und dann durch stadtbürgerlichen Druck mit Steuermitteln sanierten und geretteten proletarischen bis mittelständischen Wohn- und Gewerbequartieren aus der Zeit um 1900. Plötzlich werden die Qualität und das spekulative Potenzial ehemals umkämpfter Stadtquartiere wie Kreuzberg, Neukölln, Moabit, Wedding erkannt.

Nun ist man froh, dass diese einst von Senat, Baulobby und vielen der Moderne verhafteten Architekten als unprofitabel und unsanierbar erachtete alte Wohnbezirke nicht dem Abriss preisgegeben wurden. „Als die Chaoten Kreuzberg retteten“, war 2014 im Tagesspiegel zu lesen, und Werbungen für solche Immobilien ist zu entnehmen: „Vom Arbeiterviertel zum Szeneviertel … hip und bunt“. „Ideale Voraussetzungen, um das Leben im Kiez der Individualisten zu genießen.“ „Kreativ, lebendig, multi-kulturell. Wer das echte Berlin sucht, findet in Kreuzberg eine authentische Antwort. Hier pulsiert das Leben Tag und Nacht: … boomende Kreativwirtschaft …“. All dies verdeutlicht: Die ideale Architektur und das Stadtverständnis des Bauhauses haben versagt. Die Gentrifizierung setzt jetzt auf einen anderen Plan und die Retter der 1980er-Jahre haben ihre Schuldigkeit getan.

Über Werner Brunner / Berliner Zeitung:

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2 Kommentare

  1. Hanna Mittelstädt

    Ich möchte nur ergänzen und darauf hinweisen:
    Henri Lefebvres „Le droit à la ville“ gibt es seit 2016 auch auf deutsch: “Das Recht auf Stadt” (Editiion Nautilus).
    Freundlich grüßt
    Hanna Mittelstädt

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