Zwei Kolumnist*inn*en aus Österreich, die zeitweise auch eng zusammengearbeitet haben, werfen in ihren jeweiligen taz-Kolumnen diese Frage anhand des Klimaaktivismus und der iranischen Aufstände auf. Beide sind immer wieder Inspiration für eigenes Weiterdenken der Leser*in, insofern für mich schwer erreichbare Vorbilder.

Robert Misik/taz: Radikalität von Klimaprotesten: Schocktherapie for future – Nur mit gemäßigten Aktionen könne man Mehrheiten gewinnen, wird den Klimaschützern gern vorgehalten. Aber so einfach ist das nicht.”

Isolde Charim/taz: Glaube und Protest im Iran: Der Aufstand als politischer Exodus – Die Aufstände in Iran sind nicht so überraschend wie viele glauben. Ein System, das die Sittenpolizei braucht, ist schon lange nicht mehr akzeptiert.”

Ein Widerspruch im Vergleich beider Konfliktstellungen schiesst mir sofort in den Kopf: der deutsche Streit um Radikalität oder Gemässigtheit von Klimaprotest und -aktivismus ist eine luxuriös-hedonistische Sophisterei des Medienkarussells, gegenüber der existenziellen Lebensgefahr, der sich iranische Aktivist*inn*en ausgesetzt sehen (von Charim richtig beschrieben). Beiden gemeinsam ist das Motiv: Leben retten und erhalten plus Freiheit erkämpfen und erhalten. Die Kampfbedingungen dafür könnten jedoch kaum unterschiedlicher sein.

In den Moment dieser Überlegung erscheint auf meinem Rechner eine Rund-Email von #boycottqatar, die ich hier gerne zitiere, und die quasi ein weiteres Abbild dieser kontrastreichen Lage ist:

The Football Blackout for Human Rights

Liebe Unterstützer:innen von #BoycottQatar2022, die Fußball-Weltmeisterschaft läuft, die TV-Quoten sind niedriger, als wir selber vorher erwartet haben. Dafür gibt’s in fast allen Städten Alternativprogramme von Fanprojekten, Inis, Kneipen, Jugendgruppen, Vereinen, Schulen etc. pp. Eine unglaubliche Breite an Kreativität und Engagement für die Menschenrechte, für humane Arbeitsbedingungen und für eine bessere Fußballkultur.

Eine überregionale Aktion möchten wir euch heute ans Herz legen: „The Football Blackout for Human Rights“. Die Idee dahinter ist, am 10. Dezember, dem Internationalen Tag der Menschenrechte, noch einmal ein besonderes Zeichen zu setzen. Für die universelle Gültigkeit der Menschenrechte, auch in Katar.

Im Artikel 4 der FIFA-Statuten heißt es: „Jegliche Diskriminierung eines Landes, einer Einzelperson oder von Personengruppen aufgrund von Hautfarbe, ethnischer, nationaler oder sozialer Herkunft, Geschlecht, Behinderung, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand, sexueller Orientierung oder aus einem anderen Grund ist unter Androhung der Suspendierung oder des Ausschlusses verboten.“

Ein kurzer Vergleich dieser Richtlinien mit der Realität in Katar – beispielsweise der rassistisch anmutenden Ausbeutung von Millionen Arbeitsmigrant:innen oder der offiziellen Verfolgung von Homosexuellen – zeigt deutlich: Die FIFA hätte diese WM niemals dorthin vergeben dürfen.

Die Kampagne „Football Blackout“ will dies noch einmal deutlich machen. Natürlich ist jeder WM-Tag ein Boykott-Tag. Doch soll der Internationale Tag der Menschenrechte Anlass sein, die Öffentlichkeit noch einmal besonders anzusprechen. Beispielsweise indem wir öffentlich erklären: Gerade an diesem Tag lassen wir den Fernseher aus. Jedenfalls was den Fußball betrifft.
Informiert euch über die Homepage der Aktion. Verbreitet deren Botschaften über eure Sozialen Netzwerke. Und tragt euch selber in die Liste derer ein, die mitmachen.

Herzlichen Dank und beste Grüße
Euer Team von #BoycottQatar2022

Am 10.12. finden zwei Viertelfinalspiele statt. Zum aktuellen demonstrativ zelebrierten Streit zwischen der Bundesregierung und dem Al-Thani-Clan lesen Sie ergänzend auch Markus Völker/taz: Wie eine Fata Morgana in der Wüste – Alles sollte wertegeleitet sein, der Fußball, die Fortbewegung, das Essen. Aber gibt es so etwas wie eine wertegeleitete Rüstungsexportpolitik?” Ebenfalls sehr informativ und lesenswert sind die Berichte und Kommentare des FAZ-Korrespondenten Christoph Ehrhardt; die sind jedoch fast komplett digital eingemauert.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net