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Das nicht Sprechbare

Gedanken über die Erfahrung, in Israel gecancelt zu werden. Und warum es wichtig ist, den Missbrauch von Holocaust-Gedenken zu benennen

Als ich in den frühen 90er Jahren nach Israel reiste, bezahlte Yad Vashem mein Flugticket. Zum ersten Seminar über den Holocaust in deutscher Sprache, ein symbolischer Einschnitt, wurde eine kleine Gruppe von Pädagogen und Journalistinnen eingeladen, die aus israelischer Sicht taugliche Multiplikatoren des Gedenkens waren. Am Ende bekamen wir ein Zertifikat; ich habe es aufbewahrt. Es bedeutete mir etwas.

Dreißig Jahre später, vor wenigen Wochen, war der Druck vonseiten des heutigen Direktors von Yad Vashem ausschlaggebend dafür, dass das Goethe-Institut Tel Aviv eine Veranstaltung absagte, auf der ich mein Buch „Den Schmerz der Anderen begreifen“ vorstellen wollte. Diese Erfahrung liegt nun neben dem Zertifikat von einst.

Was ist geschehen? Auf die kürzeste Formel gebracht, habe ich aus nächster Nähe erlebt, wie die Instrumentalisierung des Holocaustgedenkens funktioniert. In Gestalt von Dani Dayan brachte ein vormaliger Anführer der Siedlerbewegung die moralische Wucht von Yad Vashem in Stellung gegen die Redefreiheit an einer deutschen Institution. Der Soziologe Moshe Zuckermann kommentiert das so: Die Gedenkstätte sei zu einem „Zweig israelischer Propaganda“ verkommen. Als Sohn polnisch-jüdischer Holocaustüberlebender kann er anders formulieren, als es für mich angemessen wäre. Kritik an Yad Vashem gehört in Deutschland zum Nichtsprechbaren.

Natürlich ging es bei dem Konflikt in Tel Aviv vorrangig weder um mich noch um mein Buch. Es sollte ein Brückenschlag verhindert werden, das praktizierte Begreifen fremden Schmerzes: ein Trialog zwischen einer Deutschen, einem jüdischen Historiker und einem palästinensischen Politologen über die tragisch verflochtenen Traumata von Holocaust und Nakba. Und die geschichtliche Verbindung zwischen diesen beiden unvergleichbaren Geschehnissen steht ja außer Zweifel. Die kollektive Entrechtung der Palästinenser hängt unmittelbar mit der Gründung des Staates Israel zusammen und diese Gründung wiederum mit der Shoah.

Meine verhinderten Mitpanelisten Amos Goldberg und Bashir Bashir schreiben als Wissenschaftler seit Jahren über neue, an Empathie orientierte Zugänge zum Jahr 1948. Das Thema ist für die israelische Öffentlichkeit also nicht neu; auch in den USA wird die Debatte wahrgenommen. In Deutschland herrsche zu Goldberg/Bashir indes selbst in der akademischen Community „dröhnendes Schweigen“, so die Soziologin Teresa Koloma Beck. Der Diskurs ist hier weitaus ängstlicher als in Israel, wo es längst auch eine postzionistische Geschichtsschreibung gibt. Eine Reihe neuer Bücher über 1948 sind gerade in Arbeit.

Die rechtsradikale Gruppe Im Tirzu macht es sich hingegen zur Mission, jedes öffentliche Gespräch über die Nakba zu ersticken, und sie war die Erste, die in Tel Aviv gegen uns protestierte. Dann trat der Staat auf den Plan: „dreiste Trivialisierung des Holocausts“, so das Außenministerium. Das Auswärtige Amt in Berlin reagierte mit einer eilfertigen Versicherung: „Die Singularität des Holocausts darf aus Sicht des Auswärtigen Amts zu keinem Zeitpunkt infrage gestellt werden.“

Was dieser Satz bedeutet, fiel mir erst im Nachhinein auf. Es handelt sich um eine geschichtspolitische Doktrin, die einer Regierung nicht zusteht. Singularität ist ein wertender Begriff, den diverse angesehene Nationalsozialismushistoriker durchaus anzweifeln oder als untauglich ablehnen. Gewiss, Deutsche mögen mit dem Wort eine besondere Verantwortung ausdrücken. Aber der Glaube an Singularität darf nicht amtlich verordnet werden, als verlaufe hier die Grenze zum Verbotenen, der Holocaustleugnung.

Politisch dirigierte Erinnerungspolitik ist auf dem Vormarsch. Auch Deutschland ist dagegen nicht immun

Ist es nicht eigentlich ein Merkmal autoritärer Systeme, detaillierte Geschichtsinterpretationen festzulegen? Und nun neigt ein grün geführtes Außenamt dazu? Per Tweet erklärte Außenministerin Annalena Baerbock den Holodomor zum Genozid, noch bevor der Bundestag beriet. Ein Geschenk an die ukrainische Regierung, obgleich die Fachwelt auch in dieser Frage uneins ist.

Politisch dirigierte Erinnerungspolitik ist weltweit auf dem Vormarsch; zu glauben, Deutschland sei dagegen immun, wäre naiv. Und es gibt bei uns eine nachvollziehbare, aus Scham resultierende Blockade, den Missbrauch von NS-Erinnerung in Staaten ehemaliger Opfer des Nationalsozialismus wahrzunehmen. Das hat in der Vergangenheit zur falschen Russlandpolitik beigetragen. Besonders wirksam ist die Schamblockade diesbezüglich gegenüber Israel. Erneut: verständlicherweise.

Es ist aber für den Erhalt einer lebendigen Erinnerungskultur und auch für den Kampf gegen Antisemitismus dringend erforderlich, eine Kultur des Sprechens über den Missbrauch von Holocaustgedenken zu entwickeln – auch wenn es dabei um Israel geht. Die Dringlichkeit dessen geht aus den täglichen Nachrichten hervor. Gegenüber einer künftigen Regierung mit rechtsextremen Ministern, die Menschenrechtsorganisationen als „existenzielle Bedrohung“ betrachten und die endgültige Vertreibung der Palästinenser als Option, kann sich Deutschland nicht länger so verhalten, wie es die Skulptur der drei Affen symbolisiert: nichts sehen, nichts hören, nichts sagen.

„Israel schlafwandelt in einen jüdischen Faschismus hinein“, warnt eine leitende Kommentatorin der Tageszeitung Ha’aretz. Auch dies ein in Deutschland nicht sprechbarer Begriff. Ein politischer Schulterschluss, indem es die deutsche Seite mit der Verantwortung für die Shoah begründet, Israel gegen besatzungskritische UN-Mehrheiten beizustehen, war schon bisher problematisch. Nun aber ist die deutsche Politik mit einem Dilemma verstörenden Ausmaßes konfrontiert.

Meine persönliche Erfahrung vor einigen Wochen war ein winziges Steinchen in einem Mosaik, von dem wir noch nicht wissen, welche Form es annehmen wird.

Über Charlotte Wiedemann / Gastautorin:

Charlotte Wiedemann ist Autorin von Auslandsreportagen, Essays und Büchern, seit 2003 mit dem Schwerpunkt "Islamische Lebenswelten". Recherchen in etwa 30 außereuropäischen Ländern, darunter Iran, Pakistan, Ägypten, Jemen, Libyen, Saudi-Arabien, Libanon, Türkei, Syrien, Oman, Tunesien, Marokko, Usbekistan, ferner Nigeria, Swasiland, Kamerun, Senegal, Tansania, Sudan und besonders häufig Mali. Ihre hier übernommenen Texte sind zuerst in ihrer "Schlagloch"-Kolumne auf taz.de, für die sie in den 90ern als Korrespondentin in Bonn gearbeitet hat, erschienen.

Ein Kommentar

  1. rudolf schwinn

    Nach der Lektüre des dankenswerten Textes von Charlotte Wiedemann greife ich zu einem Band des jüdischen Schriftstellers Erich Fried und lese in seinem Gedicht “Höre Israel” den Vers:. “Als ihr verfolgt wurdet/war ich einer von euch/Wie kann ich das bleiben/wenn ihr Verfolger seid?” Und ich erinnere das Wort des griechischen Lyrikers Jannis Ritsos “Es gibt kein fremdes Leid”. Nehmen jene, die von amtswegen Kritik an Israel als antisemitisch zeihen, nicht eine zweite Schuld auf sich?
    rudolf schwinn, Bonn-Castell

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