Stillstand oder Ruhe vor dem Sturm?
Sogar russische Ultranationalisten wie Girkin/Strelkov (er war zwei Monate unter russischen Truppen in der Ukraine und berichtet zum Schrecken russischer Propagandisten von der schlimmen Situation der eigenen Leute dort) fragen, warum die ukrainische Seite sich im Moment so zurückhält und nicht aus der Reserve kommt, um die „angeknockte“ russische Seite ernsthaft anzugreifen. Ein ukrainisches Telegram-Video von Deniz Davidov gab eine bildstarke Antwort. Im Süden der Ukraine war es bis zu 15 Grad warm, die Böden sind vom Regen völlig aufgeweicht.
Ab ca. Mitte Januar herrscht in dieser Gegend dann regelmäßig strenger Frost, der einen breiten ukrainischen Angriff mit schwerem Gerät möglich machen wird. Viele Experten rechnen damit, dass die Ukraine dabei das russisch besetzte Gebiet im Süden angreifen und durchtrennen wird – etwa mit einer „Schlacht um Melitopol“, um so das verbliebene Gebiet von Cherson sowie die Krim weitgehend vom russischen Nachschub abzuschneiden. Das würde die russische Position dort in absehbarer Zeit unhaltbar machen.
Ich halte diese Überlegungen für sehr realistisch und bin sowieso von der strategischen smartness der ukrainischen Armeeführung angetan, während ich von der russischen Seite überhaupt nicht mehr weiß, was sie noch will – außer Zeit gewinnen, um irgendwie noch Reserven zusammenzukratzen (die Scharmützel um Bachmut sind wohl hauptsächlich für die Galerie daheim in Russland, um über den Leichen vieler tausend russischer – und ukrainischer – Soldaten zu zeigen, wie „heldenhaft“ man kämpft. Es ist ebenso grausam wie militärisch sinnlos).
Ein Wort noch zur militärischen „Prognostik“:
Mitte des Jahres erschienen mir Voraussagen über den weiteren Verlauf des Ukrainekrieges weitestgehend als Kaffeesatzleserei. Seit der „Schlacht um den Donbass“ vertraue ich immer stärker der „Faktenlogik“. Die Russen haben hier mit aller Macht angegriffen und Tag für Tag einige Meter gutgemacht – und dabei jeden Tag hunderte Soldaten und viel Gerät verloren. Ernsthafte Militärspezialisten haben in dieser Zeit ziemlich kühl ausgerechnet, wie lange die russische Seite das durchhalten kann, bis sie erschöpft ist. Im Ergebnis lagen sie um ein paar Tage oder Wochen auseinander, aber in der Hauptsache lagen sie richtig: Die Russen haben mit ihrer Art der Kriegsführung die eigene Kraft untergraben. Die ukrainische Seite konnte im Osten dann im Handstreich, in Stunden und Tagen, nicht nur das von russischen Truppen im Mai/Juni blutig eroberte Gebiet zurückerobern, sondern die Russen auch noch weit darüber hinaus in die Flucht schlagen.
Im Gebiet westlich des Dnjepr, rund um die Stadt Cherson, geschah dann wenige Wochen später das Gleiche. Und im Gebiet östlich des Dnjepr, in der restlichen Region Cherson, zeichnet es sich nun ab.
Klar ist: eine Garantie, dass es wirklich so kommt, kann niemand geben. Aber es ist wahrscheinlich, dass es so kommt.
Mit Blick auf diese Region wäre die gegenwärtige Lage also: Ruhe vor dem Sturm.
Mehr zum Autor hier.
Sehr smart. Toll.
Hallo Roland,
ich bin ja neugierig auf deine Meinung zu dem Artikel, aber leider nicht pfiffig genug um es in dieser Kürze zu verstehen.
“Sehr smart. Toll.” bezieht sich auf?