Und was das mit Russland-Sanktionen zu tun hat – Die “liberale Moderne”, Frau Beck und der “Magnitzky Act”
Frau Marie Luise Beck, Mitgründerin des Zentrums für liberale Moderne gab Jung und Naiv ein langes Interview. In den ersten zehn bis zwölf Minuten erläuterte sie, was sie unter liberal und modern versteht, und das schloss ihre ganze Weltsicht auf Russland und China ein. Sie wählte eine sehr einfache Sprache, die mich ein bisschen an eine Unterstufenlehrerin alter Schule erinnert. Aber das ist eine Geschmacksfrage.
Interessant war ihre Körperhaltung. Sie verschränkte stellenweise beim Sprechen die Arme im Nacken: Ein äußerst merkwürdiges Benehmen bei einem Interview. Es wirkte überlegen, aber auch deplaziert.
Beim Thema Moderne angekommen, etwa um Minute 10, erklärte Frau Beck, man könne und müsse von der Natur lernen. Warum hat das Zebra Streifen, fragte sie?
Thilo Jung wollte es wissen, und Frau Beck erläuterte, warum: Durch das Schwarz-Weiß entstünden Luftwirbel, so könne das Tier besser mit den Fliegen umgehen.
Das wäre eine Idee, die man auf den Hausbau übertragen könne: ihnen eine Zebra-Optik geben. Sie war sich völlig sicher. Alles passte zusammen: Mimik, Duktus, Gestik.
(Minute 1 bis Minute 10)
Tatsächlich stellte die Frage, woraus sich die Zebra-Streifen erklären, schon Darwin.
Anders, als Frau Beck im Interview aber glauben machte, ist sie bis heute wissenschaftlich ungelöst. Es wäre sehr schade, wenn wir erst alle Häuser schwarz-weiß anstreichen würden, um dann herauszufinden, dass die Wunder der Evolution (und auch alles sonst) mit einem Schwarz-Weiß-Denken nicht begriffen werden können.
Denn nach diesen besagten zehn Minuten verließ ich Jung und Naiv, um mich auf die Suche nach den aktuellen Erkenntnissen zur Genese der Zebrastreifen zu begeben.
Es gibt drei prominente wissenschaftliche Theorien der neueren Zeit, die die BBC 2019 in etwa so darstellte:
Erstens: Die Streifen des Zebras verwirren die Augen der Insekten. Sie landen schlechter. Pferde, mit gestreiften Decken abgedeckt, werden ebenfalls weniger von Fliegen angeflogen.
Zweitens: Die Streifen sind möglicherweise Teil der Thermoregulierung. Auch Zebras schwitzen. Danach dient die schwarz-weiß-Färbung dazu, das Zebra zu kühlen. Am Morgen stellen sich die schwarzen Haare auf, um Hitze aufzunehmen und mittags errichten sie sich erneut, um Hitze abzugeben. Ein Versuch mit schwarz-weiß angestrichenen Wasserbehältern funktionierte dagegen nicht. Aber die Anhänger dieser These versuchen es weiter.
Drittens: Die Streifen führen dazu, dass in der Bewegung (fliehende Herde) ein angreifendes Raubtier ein einzelnes Tier schwerer erkennt (Anm.: Eine Tierdokumentation behauptete, von Wissenschaftlern markierte Tiere seien von Löwen erkannt und gerissen worden.).
2019 war die Welt etwas rigider als die BBC. Die verkündete, wir wüssten endlich, wie es zu den Zebra-Streifen kam und schlug sich auf die Seite der Insektenabwehr (These 1).
Der Standard kam zum gleichen Schluss. Er sah sogar die Theorie entstehender Luftwirbel als widerlegt an.
2020 wiederum wurde in einem wissenschaftlichen Experiment festgestellt, dass der Effekt der Fliegenabwehr auch erreicht wird bei karierten Decken. NPR berichtete. Im Gespräch sagte ein befragter Wissenschaftler, nun wäre klar, wie wenig wir über das Funktionieren von Insektenaugen wüssten. Eigentlich hätte die Evolution auch in karierten Zebras münden können.
Neuere Veröffentlichungen zum immer noch ungelösten Geheimnis der Zebra-Streifen habe ich nicht gefunden.
Im Fall des Zebras und seiner Streifen, da bin ich ganz zuversichtlich, wird die Wissenschaft eines Tages möglicherweise schlüssig erklären können, zu welchem Zweck sie das Zusammenspiel zwischen Vererbung und Umweltbedingungen (Anm.: eine neue wissenschaftliche Erkenntnis zur Präzisierung von Darwins Evolutionstheorie) hervorbrachte.
Im Fall der unerschütterlichen Vorspiegelung von Gewissheit bei Frau Beck bin ich mir sehr viel weniger sicher. Die beschriebene kurze Episode bei Jung und Naiv erinnerte mich an Szenen im Nekrasov-Film zum Magnitzky Akt (2014-2016). (deutsche Fassung)
Als dieser Fall im Europarat untersucht wurde, und zwar nur auf Grundlage dessen, was Bill Browder den Berichterstattern lieferte, war Frau Beck als Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates eine der prominenten politischen Anklägerinnen Russlands. Daher erwähnte Nekrasov auch sie und integrierte einen Teil ihrer damaligen Aussagen in seinen Film. (ab Minute 56:22)
Frau Beck gab ihm auch Gelegenheit zum Interview. Er konfrontierte sie bei dieser Begegnung mit einem Rechercheergebnis. Frau Beck wich aus. Die Einzelheiten waren ihr egal, die kannte ihre russische Mitarbeiterin. Nekrasov hatte sie damals nur zu einem Untersuchungsergebnis befragt: Hatte Magnitzky russische Funktionäre der Korruption beschuldigt (Vorhalt von Browder) oder nicht? (Anm.: aufgrund der Originaldokumente hat er das nicht getan.)
Magnitzky aber war in Becks Augen zu einer „Lichtgestalt“ geworden, aufgrund seines Schicksals, das so internationale politische Bedeutung bekam.
Der Film von Nekrasov ist bis heute entgegen ursprünglicher anderslautender Planungen nicht im deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehen gezeigt worden. Eine Voraufführung im Europäischen Parlament scheiterte ebenfalls. Um es mit den Worten von Bill Browder (im Nekrasov-Film) zu sagen: Was Nekrasov filmisch behauptete, ist die Sichtweise des KGB.
Das mag man damals ja auch geglaubt haben. Aber seit 2019 gibt es ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Institution des Europarats, ECHR).
In diesem Urteil ist klipp und klar dargestellt, dass die Inhaftierung von Magnitzky rechtens war (Art. 205).
Er wurde der Beihilfe zur Steuerhinterziehung verdächtigt, betrieben von zwei Unternehmen, die Bill Browder gehörten. Er war nicht Browders Anwalt. Er war sein Buchhalter. Es bestand Fluchtgefahr.
Mit der (rechtmäßigen) Verhaftung von Magnitzky nahm eine Tragödie ihren Lauf, die in seinem Tod endete. In diesem Zusammenhang sah es der ECHR als erwiesen an, dass Magnitzky im Gefängnis ein Opfer inhumaner Bedingungen war und misshandelt wurde. Magnitzky war also keine „Lichtgestalt“, aber ein Opfer russischer Gefängnisbedingungen.
(Es gibt einige juristisch relevante Untersuchungen des Falls.)
Und doch, auf der Grundlage einer anderslautenden Erzählung eines mächtigen Mannes, Bill Browder, hat die andere Geschichte: Magnitzky sei staatlicher Korruption auf die Spur gekommen, hätte die Betreffenden angeklagt, was dann zu seiner Verhaftung usw. führte und in seinem Tod (Folter?) mündete, das Narrativ bestimmt.
Selbst Nekrasov glaubte daran, aber er begann, für seinen Film zu recherchieren.
Der „Magnitzky-Act“ wurde zum ersten Sanktionsinstrument gegen Russland. Zunächst in den USA, dann in Kanada, dann ist Großbritannien und schließlich auch in der EU.
Trotz des Gerichtsurteils des ECHR hat das Europäische Parlament in einer Drei-Parteien-Initiative 2020 eine Veranstaltung im Vorfeld der Einführung eines EU-Sanktionsinstruments gegen Menschenrechtsverletzungen in Gedenken an Magnitzky Bill Browder eingeladen.
Denn Bill Browder wurde zur Autorität in Sachen Magnitzky und zur Autorität in Sachen Einschätzung von Russland. Er hat im Film von Nekrasov die klare Wahl aufgemacht: Entweder ihr glaubt mir oder dem KGB.
Wegen des beabsichtigten „Magnitzky-Acts“ der EU 2020 schrieb Andrei Nekrasov einen offenen Brief an die Europäische Kommission, wandte sich an die Abgeordneten des Europäischen Parlaments. Er präsentierte seine Rechercheergebnisse. Es ist alles auf seiner Website dokumentiert.
Es war alles vergebens. Denn es ist abgelegt unter „KGB-Lügen“. Die wenigstens möchten diesen Ordner auch nur anfassen.
Am 20. November 2020 erklärte die Präsidentin der Europäischen Kommission Sergei Magnitzky zum Opfer eines Verbrechens. Sie legitimierte den Vorschlag der Kommission, Menschenrechtsverletzungen künftig weltweit zu sanktionieren.
Insofern war ich Frau Beck äußert dankbar, dass sie über die Streifen des Zebras mit so großer Gewissheit sprach. Sie enthüllte das Wesen der „liberalen Moderne“.
Es besteht nicht im Denken, im Recherchieren, in der kritischen Selbstreflektion und gar in notwendigen Korrekturen. Es ist axiomatisch. Es fühlt sich berechtigt zur “Gegneranalyse”.
Ein einmal gebildetes Urteil, immer wiederholt, verwandelt Vermutungen nicht in Wissen, sondern in Glauben. So verfestigen sich Schein-Realitäten, die weitere politische Akte nach sich ziehen.
Schwarz-weiß angestrichene Häuser, die keinen Beitrag zur Wärmeregulierung leisten, sind da nur ein geringes (wenn auch theoretisch sehr teures) Problem. Politische Deutungen, die auf Glauben und ideologischer Manipulierung beruhen, sind dagegen geeignet, das Leben von sehr vielen Menschen zugrunde zu richten.
Wer im Magnitzky-Fall den Beweis erblickte, dass das russische System vor nichts zurückschreckt, um einen Kämpfer gegen Korruption und für Rechtsstaatlichkeit zur Strecke zu bringen, der glaubt alles, was ihm auch sonst noch erzählt wird über dieses Russland.
Wer alle Hebel in Bewegung setzt, damit auch nicht der leiseste Hauch des Zweifels auf solche Deutung fällt, der hat Angst, was passiert, wenn Menschen mit der ganzen Komplexität eines Vorgangs konfrontiert werden, der doch schön einfach schien.
Darum ging und geht es die ganze Zeit: Nicht darum, etwas zu wissen, sondern etwas zu glauben. Und wehe, die Püppchen tanzen aus der Reihe, und wollen es genauer wissen.
Dann verfährt man mit den Püppchen im extremsten Fall so, wie mit Julian Assange.
Trotz der in seinem Fall eindeutigen Feststellungen des UN-Folterbeauftragten Nils Melzer, hielt es niemand für politisch notwendig, über Sanktionen zu diskutieren gegen alle jene, die sich der politischen Verfolgung, der Folterung und der anhaltenden Inhaftierung von Julian Assange schuldig machten. Derartige Sanktionen (und auch sie wären nicht UN-konform, es sei denn die UN erließe sie) würden alle treffen, die jeden Tag das Wort der Menschenrechtsverteidigung in den Mund nehmen, um damit Schindluder zu treiben.
Es bleibt also nur ein einziger Weg, aus dieser „liberalen Moderne des Mittelalters “ auszubrechen, in die „liberale Moderne der Aufklärung.“
Fakten und Wissen müssen immer wieder neu auf den Tisch, nicht in der Logik der neuerdings unvermeidlichen „Faktenchecker“, die Narrativen huldigen, sondern gemäß der menschlichen Suche nach Erkenntnis.
Aber es wird möglicherweise auch neue Demut brauchen. Denn wenn eine wissenschaftliche Hypothese stimmt, dann trifft unsere unstillbaren Sehnsucht nach Erkenntnis auf eine evolutionär bedingte Schranke, die ich mit meinen beschränkten Mitteln nur so charakterisieren kann, dass wir nur erkennen, was wir menschlich sehen können. Das verhindert überhaupt nicht neue Erkenntnisse über uns und die Welt, aber es bliebe ein ewiger unendlicher Rest, etwas, was sich unserer Erkenntnis immer wieder entzieht, so unendlich wie das Weltall selbst.
Ich nehme an, dass selbst eine solche Überlegung, der etwas ungemein Humanes, aber auch etwas sehr viel Größeres (Göttliches? – Ich habe dafür im Moment keinen besseren Ausdruck) innewohnt, den Ordensrittern der „liberalen Moderne“ auch nur Missklang in den Ohren ist.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus dem Blog der Autorin, mit ihrer freundlichen Genehmigung. Fettschriften wurden zur optischen Gliederung nachträglich eingefügt.
Dieser Nils
https://www.deutschlandfunk.de/spd-aussenexperte-schmid-fordert-entschiedenes-vorgehen-gegen-russland-102.html
hat schon als Spitzenkandidat die baden-württembergische SPD niedergelegt.
https://de.wikipedia.org/wiki/Landtagswahl_in_Baden-W%C3%BCrttemberg_2011
Wenn seine Partei wg. aufgedeckter Spione 1969-82 so reagiert hätte – ganz zu schweigen von Helmut Kohl (1982-89) – wie er es jetzt empfiehlt, dann wäre mutmasslich menschliches Leben in Deutschland heute nicht mehr möglich.
War es besser, dass die SPD damals (1974) einen Spion zum Sturz ihres erfolgreichsten Bundeskanzlers
https://de.wikipedia.org/wiki/Bundestagswahl_1972
nutzte? Immerhin war das nur für die SPD lebensgefährlich.
Wer sagts ihm? Frau Beck und Herr Fücks sicher nicht.